Ferien auf dem Frachtschiff

  21.03.2024 Reportagen

Ein ungeahnt genussvolles Erlebnis.

Mein Platz in der Rettungskapsel ist die Nummer 15, so las ich es am Vorabend im Info-Dossier in meiner Kabine. Noch im Pyjama, gönne ich mir am frühen Morgen einen ersten Blick aus dem Kabinenfester. Endlich! Darauf habe ich mich besonders gefreut: Kein Land in Sicht! Die Überfahrt von Deutschland bis zur norwegischen Küste dauert 36 Stunden. Die ruhige See und der heitere Himmel sind Bedingungen für einen ersten geführten Rundgang über die MS RUMBA. Maxim, der 1. Offizier, steckt mir ein paar Handschuhe zu und besteht darauf, dass ich die dick gefütterte, signalfarbene Offshore-Jacke anziehe, die er mir mitgebracht hat. Zu meiner Überraschung passt beides perfekt. Ich schnüre meine frisch imprägnierten Wanderschuhe und folge ihm die nächsten knapp zwei Stunden auf Schritt und Tritt.

Das bullig wirkende Freifallboot ist, wie der Name es erahnen lässt, in interessanter Höhe am Heck des Schiffes angebracht.
Gesichert durch einen Bolzen hängt es im steilen 40°-Winkel zum Abrutschen bereit. So beruhigend die Präsenz einer solchen Rettungskapsel, so beunruhigend scheint mir das Szenario des Bedarfsfalles. Durch die Einstiegsluke auf dem 2. Deck krieche ich etwas ungelenk hinein, suche meinen zugeteilten Platz und hangle mich zum Sitz. Bevor ich wieder aus dem dunklen und unangenehm hallenden Hohlraum klettere, horche ich Maxim’s Ausführungen über ein solches Abwurfmanöver, verharre still und ein wenig verloren auf der Nr. 15 und lasse die Gedanken an dieses Prozedere nachwirken.
Der Weg führt uns über schmale, saubere Treppen hinunter in den Schiffsbauch. Wir spazieren über Container, die unter den aufklappbaren Ladeflächen trocken aufgestapelt sind, vorbei an verschiedenen Werkstätten, in welchen wir Seeleute antreffen, die ihrem Handwerk nachgehen. Zwischen den Häfen arbeiten sie ohne Tageslicht und über Monate ohne freien Tag, beispielsweise in der Malerei oder Schlosserei und halten das Schiff während der Fahrt kontinuierlich instand. Zunehmende Motorengeräusche verraten, dass wir uns dem Herzstück nähern. Maxim reicht mir einen Gehörschutz und setzt sich selbst einen auf. Hinter der nächsten Türe brummen in ohrenbetäubendem Gedröhn die blitzeblank geputzten Maschinen, die für die Kraft von 8500 PS sorgen und das ganze Schiff in ein permanentes Vibrieren versetzen. Der Chef Mechaniker steuert sie aus dem Kontrollraum, der mit allerhand Anzeigen, Schaltern und Lämpchen an einen alten James Bond-Film erinnert. Angrenzend, in sattem Grün gestrichen, die Aggregate zum Betrieb der schiffseigenen 40 Tonnen-Kräne und zur Erzeugung von Strom für die Kühlcontainer, dann der Autopilot und die Wasseraufbereitungsanlage, einfach alles Notwendige für ein autarkes Leben auf den Weltmeeren. Maxim’s Jacke, die zahllosen Leitersprossen zur Krankabine und schliesslich aufs Dach des Kommando-Turms, bringen mich trotz auffrischendem Wind ins Schwitzen.

Als Marine-Akademie-Absolvent ist er in der Lage, jede meiner Frage zu beantworten. Aber für was ich hier oben erlebe, braucht’s keine Worte.
Ich bin überwältigt von der Schönheit dieser Aussicht, der Einzigartigkeit des Augenblicks und berührt davon, dass der junge Russe mir ermöglicht, wovon ich mich vor Antritt meiner Reise nicht zu träumen gewagt hätte.
Die Regenhauptstadt Bergen ist die dritte norwegische Station auf unserer Tour. Im Vergleich zu vielen anderen Frachthäfen, die wir anlaufen, befindet sich dieser mitten in der Stadt. Die Anfahrt bei Dunkelheit – ohne Niederschlag – durch enge Fjorde und unter gigantischen, beleuchteten Brücken hindurch, ist ganz klar einer der Höhepunkte dieser Reise.
Die Fahrt durch die zuweilen engen Meeresarme und entlang der Küste lässt die Kulisse zu jeder Tages- und Nachtzeit wie ein Film an einem vorbeiziehen, sorgt für ständige Abwechslung, immer wieder schöne Spiegelungen und stimmungsvolle Lichtspiele. Je näher wir dem nördlichsten Zielpunkt Orkanger bei Trondheim kommen, desto höher steigen die Berge und desto tiefer sinken die Temperaturen. Auf den letzten Meilen zum Hafen passieren wir eine der zahlreichen norwegischen Lachsfarmen. Eine Ansammlung schwimmender Metallringe mit runden Netzkäfigen, die mit mind. 25 m Durchmesser und 50 m Tiefe bis zu 30’000 Tiere enthalten. Obschon unser Eintreffen einmal mehr nach Fahrplan erfolgt, ist der äusserst knapp bemessende Anlegesteg bereits besetzt. Im Verlaufe der stündigen Wartezeit erfahren wir die Gründe und sie stimmen Kapitän und Crew versöhnlich. Auf dem im Hafen liegenden Schiff hat sich ein Seemann beim Entladen der Container die Hand verletzt und muss an Land ärztlich versorgt werden. Sobald sich jedoch das Schiff am Steg in Bewegung setzt, leitet der Kapitän das anspruchsvolle Anlegemanöver ein. Starker Wind, Untiefen im Hafenbecken, Strömungen und knappe Platzverhältnisse fordern volle Konzentration und klare Kommunikation aller Beteiligten. Noch bevor das Schiff vertäut ist, besteigen zwei Seemänner je einen Kran, die grossen Scheinwerfer zur Ladefläche erleuchten den Schauplatz und im Hafen rollen schon die krabbenartigen Fahrzeuge heran, die mit ihren Greifarmen scheinbar ungeduldig auf entladene Container warten. Mit praktisch leerer Ladefläche auf absolut ruhiger See bietet sich am folgenden Tag auf der Fahrt zurück Richtung Südwesten die Gelegenheit, einen reizvollen Perspektivenwechsel zu erleben und vom Bug her freie Sicht auf den Turm zu geniessen. Im Städtchen Alesund ergibt sich zum ersten Mal die Gelegenheit von Bord zu gehen; der kleine, malerische Ort lässt sich problemlos zu Fuss erkunden.

Als ich mich drei Stunden später wieder an der Strickleiter am Schiff einfinde, schaue ich beim Kapitän und seinem 1. Offizier in besorgte Gesichter.
Aufgeschnappten Wortfetzen ihres Gespräches entnehme ich, dass sie so rasch wie möglich ablegen wollen; der Grund für ihre Eile erschliesst sich mir in den folgenden Stunden.
Astrid Schmid


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