Vom Thunersee zur Nordsee – auf zwei Rädern

  06.06.2024 Reportagen

Eine Reise neben dem Strom.

Nach der dritten Runde bei strömendem Regen im Wettsteinplatz-Kreisel in Basel, ist mein anfängliches Hochgefühl über das entdeckte Einstiegsschild in die Rheinroute Nr. 15 verflogen. Die vermeintliche Routensicherheit der zurückliegenden vier Schweizer Etappen wird innert weniger Stunden abgelöst von ernsthaften Zweifeln über die Erfolgschancen meiner Nordsee-Mission. Der nette deutsche Zöllner, der mit meinem Handy ein Foto von mir neben dem Bundesadler knipst, fängt mein leicht gequältes Lächeln ein. Ob dabei der Einfluss des Niederschlags oder die bevorstehende Unbekannte stärker gewichtet, hat für mich in dem Moment keine Bewandtnis. Auch wenn ich dieser Sehenswürdigkeit im graunassen Morgen nicht viel abgewinnen kann, radle ich in die Mitte der Dreiländerbrücke. An den Punkt, an dem sich die Schweiz, Frankreich und Deutschland treffen, bevor ich mich zwischen Lastwagen durch wenig romantisches Industriegebiet bewege und nach x-maligem Verfahren erst einmal an die neue Beschilderungsrealität herantaste. Schnell wird mir klar, dass meine Taktik, mich an die spärlich ausgeschilderte Rheinroute zu halten, keine realistische Variante darstellt, mein Ziel innerhalb der verbleibenden 9 Ferientage zu erreichen. Glücklicherweise erinnere ich mich daran, dass mich ein Arbeitskollege kurz vor Abreise gefragt hat, ob ich auch mit der Komoot-App navigiere. Die sandigen, vom Wasser getränkten Naturwege, erfordern nebst einer erheblichen Anstrengung mit einem beladenen Fahrrad auf schmalen Reifen vorwärts zu kommen, auch etwas Geschicklichkeit. Die beginnende Hochwassersituation in Süddeutschland lässt mich wiederholt vor gefluteten oder gar gesperrten Radwegen stehen und nach Umfahrungen Ausschau halten, denn signalisierte Umleitungen suche ich vergeblich. Meine latente Angst vor einer Panne in unwegsamem Gelände verschärft sich zusätzlich, als ich bemerke, dass ich gefühlt stundenlang keiner Menschenseele begegne. Zu meiner Schande kam nämlich die Vorbereitung für den Reparaturfall nicht nur zu kurz, sie ist gänzlich inexistent und ich fürchte, dass selbst der geschätzte Hol- und Bring-Service der Sport Amstutz AG, Thun auf diese Distanz nicht greift. Spätestens als ich zwei Radfahrer antreffe, die am Wegrand einen geplatzten Reifen flicken, ärgere ich mich über meine anfänglich optimistische Haltung, es werde schon alles gut gehen und sonst gebe es immer Lösungen. Diese Unsicherheit begleitet mich von nun an in einer beklemmenden Allgegenwärtigkeit. Die Idylle der ersten paar Tour-Tage ist verblasst, das Terrain eintönig, mühsam und die wiederholten Regenschauer und die zahlreichen Mücken hellen meine Stimmung auch nicht gerade auf. Seit jeher mag ich keine nassen Füsse und wäre ich zu dieser Reise verknurrt worden, wäre das wohl der Augenblick gewesen, in dem ich mich gegen eine Fortsetzung gewehrt hätte. Aber es ist ja genau diese Form der Exposition, die ich erfahren will und so entscheide ich mich gegen einen Tour-Koller und freue mich darüber, dass sich das Wasser in meinen Schuhen aufwärmt.

Aber die Neugier auf das, was noch kommen mag, die Hoffnung auf trockene Tage und abwechslungsreiche Strecken, werden belohnt. Spätestens in der Region Ludwigshafen bin ich in meiner Reise angekommen. Mühelos schaffe ich täglich zwischen 80 und 100 Kilometern geniesse den sichtbaren Fortschritt der Reise und fühle mich nicht nur neben dem Strom, sondern auch im Flow. Das App-unterstützte Navigieren fällt mir leicht und es bleibt Kapazität für Begegnungen auf und Entdeckungen neben der Strecke. «Schon meine Mutter sagte, ich solle keiner Frau folgen» gluckst der silberbärtige Pensionär lachend, als er hinter mir in die Sackgasse einbiegt. Einige Kilometer fahren wir anschliessend nebeneinander her und während er mir von seinen zahlreichen Rad-Reisen durch Europa erzählt, überquert unmittelbar vor uns halb hüpfend, halb flatternd ein Fasan die Strasse, gefolgt von einem Reh und beide verschwinden sie im satten Grün des Feldes. Die tägliche Suche während der Zvieri-Pause nach einer passenden Unterkunft für die folgende Nacht klappt problemlos. Im Vergleich zur Variante Zelt, weiss ich den Luxus eines bezogenen Bettes, einer warmen Dusche und der Möglichkeit, die Kleidung auszuwaschen, mehr als zu schätzen.

Der sympathisch zerstreute Gastgeber der kleinen, noch nicht ganz fertig gestellten Unterkunft in Bingen hat viel über die Schlösser der Loreley-Region zu berichten, dort hat sich in kurzer Zeit grosse französische, italienische, englische und natürlich deutsche Geschichte abgespielt. Entlang der Rheinroute befinden sich 9 Weltkulturerbe. Natürlich hatte ich mir im Vorfeld einige Ziele herausgeschrieben, die ich gerne besuchen möchte, die Loreley und der Drachenfels sind nur zwei davon. Aber schon früh auf meiner Reise muss ich mich entscheiden, ob ich eine Kultur-Ferienreise erleben möchte oder mich stärker mit dem sportlichen Ziel, der Erreichung der Nordsee, identifiziere. Ich beschliesse Letzteres und nutze aber die Fahrt durch die geschichtsträchtigen Regionen als Inspiration für spätere Reisen.

Ein Blick auf die Kilometer-Statistik 5 Tage vor Ferien-Ende bringt mich in Bedrängnis. Die Fahrt durch dicht besiedelte Gebiete oder grössere Städte benötigt Zeit und wirkt sich reduzierend auf die Anzahl Tageskilometer aus. Die Aussicht auf die bevorstehenden Städte Bonn, Köln, Düsseldorf, Duisburg und Rotterdam stellt das Erreichen der Nordsee bei Hoek van Holland mehr als infrage.

Astrid Schmid

 


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