Aus dem Leben

  17.10.2024 Reportagen

Die Blicke der Menschen lassen mich spüren, dass wir nicht in einem üblichen Personenwagen unterwegs sind. In ihrem Ausdruck erkenne ich eine Mischung aus Verunsicherung und Respekt. Der erste Atemzug bei der Geburt ist schicksalshaft mit dem Tod verbunden. Wir wissen das, dennoch ist die Erinnerung daran, ausgelöst durch einen vorbeiziehenden Leichenwagen, wohl für die meisten ein unerwünschter Mahnruf.

Gemessen an der Zahl der Passanten, die die Hand zum Gruss heben, scheint der Mann am Steuer im dunklen Wagen bekannt wie ein bunter Hund zu sein. Diese unvermittelte Geste zeigt, dass sich nicht alle von der Präsenz des Todes erschlagen fühlen, sondern durchaus lebensbejahend die unausweichliche Tatsache der Endlichkeit miteinschliessen. Eine erfrischende Erfahrung, die ich übrigens ausnahmslos mit allen im Prozess der Bestattung Beteiligten mache.

Im Sarglager reihen sich nicht nur verschiedene Modelle, sondern auch unterschiedliche Grössen von stehenden Särgen aneinander. Alle fein säuberlich in eine transparente Hülle verpackt, bereit, einen Menschen auf seiner letzten Meile zu beherbergen. Nun erschliesst sich mir, warum der Bestatter bei der Trauerfamilie nach Gewicht und Grösse der Verstorbenen gefragt hat. Für das Interieur stehen mehrere Farb- und Weisstöne zur Auswahl und der Bestatter staffiert mit geübten Griffen die rohe Holzhülle mit Baumwoll-Polsterung und Kissen in Naturweiss aus.

Am Ende der Fahrt zum Pflegeheim fand ich mich vor dem für mich belastendsten Augenblick wieder. Ich spreche dabei nicht vom Anblick des leblosen Körpers. Am Eingang der Institution sitzen vier ältere Damen. Mit Sicherheit ist dies in jedem Heim der Ort, an dem die meisten Bewegungen stattfinden. Da gehen Besuchende, Ärzte und Pflegepersonal ein und aus. Bestimmt lässt sich der eine oder die andere gerne in ein Gespräch verwickeln und ein kurzer Austausch verkürzt die Zeit, bringt Abwechslung und Leben in den Heimalltag.

Mit dem Sarg auf dem höhenverstellbaren Wagen bewegen wir uns leise den Flur entlang. Die Pflegende, die dazu kommt, öffnet uns die Türe zum Bewohnerinnenzimmer. Die Abholzeiten für den Bestatter sind von Heim zu Heim verschieden. Während die einen Häuser eine Abholung der Hingeschiedenen erst nach 18.00 Uhr und wenn möglich durch den Hintereingang bevorzugen, setzen andere ein klares Zeichen damit, dass die Abholung auch tagsüber und ausnahmslos durch das Hauptportal passiert.

Beim Betreten des Zimmers empfängt uns ein angenehmer Duft. Die Frau liegt sorgfältig gekämmt und mit einem langen Rock bekleidet auf ihrem Bett. In den gefalteten Händen hält sie ein paar Rosen, die ihre Familie beim wahrlich letzten Besuch aus dem eigenen Garten mitgebracht hatte. Auf dem Nachttisch steht ein gerahmtes Bild ihres Mannes, welches unbedingt mit in den Sarg soll. Trotz der fahlen Gesichtsfarbe sieht sie gut aus, die Gesichtszüge entspannt, nicht schlafend, eher ruhend, entrückt, offensichtlich aus dem Leben.

Die Pflegende hilft uns, den mageren Körper mit einer sanften Bewegung vom Bett in den Sarg zu ziehen. Während ich ihr die Schuhe über die kühlen Füsse streife, legt Hans-Jörg das Bild mit in den Sarg und trifft letzte Absprachen mit der Heimleiterin.

Sorgfältig schliessen wir den Sarg und rollen ihn durch den Hauptausgang zum Wagen. Sie sitzen noch immer da, die vier Frauen. Sie schweigen, schauen uns nach und ich verwerfe den Gedanken, was beim Anblick dieses Szenarios in ihren Köpfen vorgeht, welche Emotionen es zurücklässt. Gerade weil mir die Nähe zu alten Menschen behagt und ich den Austausch schon immer gerne mochte, lastet diesem Augenblick eine schier erstickende Schwere an.

Auf der Fahrt zum Krematorium erfahre ich mehr über die Herausforderungen einer Überführung von Verstorbenen aus dem Ausland zurück in die Schweiz. Der administrative Aufwand erhöhe sich massiv und es muss erst ein Leichenpass eingeholt werden. Wesentlich einfacher sei es, den Verstorbenen im Ausland kremieren zu lassen, denn eine Urne kann auf dem Flug als Handgepäck mitgeführt werden. Der erhabene Wagen rollt vor das mit «Anlieferung» beschriftete Tor. Durch Knopfdruck auf der Fernbedienung schiebt es sich langsam zur Seite und gibt die Zufahrt aufs Areal frei. Während mir Hans-Jörg unter der gedeckten Einfahrt noch etwas über die verschiedenen Urnengrabarten erzählt, wandern meine Gedanken schon ins Innere des Gebäudes. Kaum in den grosszügigen Korridor eingebogen, bemerkt er, dass nur wenige der 12 Aufbahrungs-Zimmer belegt sind. Er erkenne das daran, dass an der Wand davor drei Sargdeckel hängen. Konzentriert beschriftet er zwei kleine Tafeln mit dem Namen der Verstorbenen und noch bevor er je eines an der inneren und äusseren Türe anbringt, stellt er die Kühlung im Aufbahrungs-Sockel ein. Behutsam schrauben wir die Sargnägel aus dem Holz und heben den Deckel ab. Er ist so leicht, dass ich ihn alleine an die angedachte Vorrichtung hängen kann, unterdessen platziert der Bestatter den Sarg auf dem Sockel.

Plötzlich schaut am Korridorende ein junger Frauenkopf um die Ecke. Sie grüsst von weitem, kommt entschlossen mit einem gewinnenden Lächeln auf uns zu und bemerkt sofort das neue Gesicht. Nach einer kurzen gegenseitigen Vorstellung fragt sie ohne Umschweife: «Möchtest du wissen, wie es nach der Aufbahrung weiter geht? Dann komm mit!». Sie führt mich in einen grossen, schlichten und lichten Raum mit rundem Dachfenster. Am Boden führen zwei Metallplatten-Zeilen je zu einem schmalen Tor. Es ist der Ofenvorraum, hier werden die Särge aufkoloniert und durch das Tor direkt in den Verbrennungsofen befördert. Das Angebot der begleiteten Kremation, nämlich, dass die Angehörigen den Sarg bis zum Ofen begleiten, wird je länger je öfter genutzt.

Aus diesem Raum führt eine diskrete Tür eine Treppe hinunter in die Aschenbewirtschaftung. Die verantwortlichen Mitarbeitenden nehmen an den Öfen die entsprechende Asche entgegen, entfernen Fremdmaterial, wie beispielsweise künstliche Gelenke. Sie stellen unter anderem durch eine in den Sarg gelegte nummerierte Ton-Marke sicher, dass die Angehörigen garantiert die entsprechende Asche ihrer Lieben überreicht bekommen.

Am offenen Sarg stehend verabschiede ich mich mit einem kurzen «Adieu». Gestärkt durch die unmittelbar aufgefrischte Gewissheit der Endlichkeit und einem Gefühl der Erfüllung über die Achtung, die Trauernden und Verstorbenen entgegengebracht wird, gehe ich hinaus ins Leben. Astrid Schmid

Teil 1 siehe Ausgabe vom 10. Oktober 2024

 


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