Traditionelles Handwerk in der Region

  28.11.2024 Reportagen

Drechsler, ein überdurchschnittlich vielseitiger Beruf in der Kontroverse zwischen Kunsthandwerk und Produktion.

Mitten im Lerchenfeld-Quartier in Thun verrät ein weisses Schild an der Strasse, dass sich hier ein ganz besonderes Gewerbe unauffällig zwischen den Wohnhäusern eingefügt hat. Die Türe steht offen und schon beim Eintreten überkommt mich der Reflex, tief einzuatmen. Betörend hölzerner Duft in einer Intensität, wie er nirgendwo sonst zu finden ist, umhüllt mich. Mit kleinen Schritten bewege ich mich in die dicht belegte und knapp beleuchtete Werkstatt. Der Boden fühlt sich rutschig an. Ausnahmslos jede Oberfläche ist mit einer leichten Holzstaubschicht bedeckt und lädt ein, mit dem Finger darin zu zeichnen.

Ein junger Mann mit langem, dichtem Bart und gewinnendem Lächeln, begrüsst mich und heisst mich in der Drechslerei Bruni AG willkommen. Jan führt den Betrieb in dritter Generation. Als sein Grossvater vor 1960 von Oberstocken herkommend, eine Betriebsbewilligung in Thun beantragte, wurde diese mit der Begründung erteilt, dass der Betrieb neben den sechs bestehenden Drechsler-Unternehmen ohnehin bald eingehen werde. Jan bläst sich mit Druckluft die Holzspäne aus der Kleidung. Heute ist es die einzige Drechsler-Werkstatt in der Region. Während er seinen Mitarbeitenden den eidgenössisch diplomierten Drechslermeister Fredi vorstellt, schweift mein Blick über eine erhebliche Menge aufgetürmter Bestattungsurnen. Ein regelmässiges und dadurch massgeblich wichtiges Geschäft. Nicht ohne Stolz erklärt er, dass er genau wisse, in welchem Wald das Holz dafür gewonnen wird. Langjährige Partnerschaften in der Beschaffung des Rohstoffs seien elementar wichtig.
Woran denken sie, wenn sie sich ein Erzeugnis des Drechslers vorstellen? Genau, Kerzenständer, Salatschüsseln oder Pfeffer- und Salzmühlen. Auf dem Rundgang durch den Keller mit dem Senior Chef Hans-Jürg entdecke ich Dinge, die ich definitiv nicht bei einem Drechsler gesucht hätte. Die Vielfalt verblüfft! Oft sähen sie sich mit ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten als Problemlöser, für Einzelstücke genauso wie in der Industrie. Früher habe er sogar mit exotischen Materialien gearbeitet, wie beispielsweise Walrosszähne oder Elfenbein. Auch wenn mit Epoxidharz neue, künstliche Materialien in die Bearbeitungspalette des Drechslers gekommen sind, konzentriert man sich bei Brunis klar auf Holz. Vom Honiglöffel, Brillenbügel, Parfum-Flacon über den Racletteschieber, Schmuckdosen, Karaffendeckel bis hin zum Stuhlbein oder Kommodengriff. Sogar Bestandteile für Instrumente, einige Komponenten für den Armbrustsport oder Tambouren-Sticks sind im grenzenlosen Repertoire enthalten. Gerade in der Restauration spielt der Drechsler eine entscheidende Rolle, weil es sich um besondere Einzelstücke handelt. Entsprechend hoch ist der Aufwand für solche Spezialanfertigungen. Um existieren zu können, ist der Betrieb auf Aufträge mit hohen Stückzahlen angewiesen. Die Masse sichert die Existenz, daher werden im Tagesbetrieb für beispielsweise Werbegeschenke, welche meist sehr kurzfristig und in Akkordarbeit hergestellt werden müssen, immer Ressourcen geschaffen.
In der – begründet durch das Wachstum – etwas verschachtelten Werkstatt steht eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Gerätschaften, Sägen, Bohrmaschinen und Drehbänke. Die meisten davon sind der Decke entlang mit einem flexiblen Schlauchsystem verbunden. So werden Holzspäne und das Sägemehl ins Spänesilo abgesogen, verfeuert und für die Beheizung der Werkstatt sowie die Trocknung der gelagerten Hölzer verwendet. Mein Eindruck täuscht mich nicht, lediglich drei der zahllosen Maschinen seien jünger als er selbst, bestätigt Jan. Auch wenn es auf dem Markt zwar Neues gibt, böten diese Neuheiten kaum Vorteile gegenüber den bewährten und äusserst langlebigen Geräten. Er selbst hat noch mit den Werkzeugen seines Grossvaters gearbeitet und setzt nach wie vor auf deutschen Werkzeugstahl.
Im hinteren Teil des Gebäudes treffe ich auf eine Besonderheit. Hier können Säulen von bis zu 45 cm Durchmesser und 10 Meter Länge gefertigt werden. Einige Masten von Schiffen der Thunersee-Flotte oder beispielsweise auch die Säulen des Gebäudes der Karate-Schule in Allmendingen stammen aus dieser Ecke. Gerade im Baugewerbe steckt hierfür noch viel Potenzial, das die meisten Bauherren wohl nicht auf Anhieb beim Drechsler suchen würden.
«Das Wichtigste ist, das Holz anzusprechen», verrät mir der Drechsler. Es gilt, das Material als Ganzes zu erfassen, die Faserrichtung, Einschlüsse, Äste, ob es sich um Quer- oder Längsholz handelt. Die verschiedenen Holzarten haben nochmals unterschiedliche Eigenschaften, die man für eine fachgerechte Bearbeitung kennen muss. So kommt es nicht von ungefähr, dass die Ausbildung zum/zur Holzhandwerker:in EFZ mit Fachrichtung Drechsler vier Jahre dauert. In der Schweiz gibt es pro Jahr gerade mal drei Lernende. Dieser Umstand erklärt, warum die Studie «Traditionelles Handwerk», die unter anderem vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie in Auftrag gegeben wurde, dieses Berufsbild in der Liste der – wenn auch nur gering – aber immerhin gefährdeten Handwerke führt.
Zwischen dem Spindelstock und dem Reitstock hat Jan ein Rohling, so heisst das zu bearbeitende Werkstück, aus Birnenholz eingespannt, das er zu einem Teller verarbeitet. Er stützt die werkzeugführende Hand auf der Handauflage ab. Mit einem weichen gleichmässigen Geräusch beginnen sich die dünnen, leicht rötlichen Späne über seine Hand zu schieben. Sei es Heulen, Singen, Schleifen, dumpfes scharfes oder weiches Schaben, er könne alleine am Klang erkennen, welches Werkzeug verwendet und ob es fachgerecht eingesetzt wird. Nur selten fliegt ein Fertigungsteil wegen unsachgemässer Handhabung an der Drehbank durch die Räume. Die Verletzungsgefahr an der Säge ist weit grösser. Gemächlich und in einem wohltuenden Schauspiel verwandelt sich die Kontur des bearbeiteten Holzstücks zusehens zur Bestimmungsform.
Nachdem die Drechslerei früher noch einen kleinen Laden in der oberen Hauptgasse betrieb, sieht der Alltag des Jungunternehmers heute Anderes vor. Viel Zeit investiert er in Offertstellung, Auftragsbeschaffung, Arbeitsvorbereitung und in Entwicklung von automatisierten Abläufen. Zu Zeiten vom Senior hat der administrative Anteil einen wesentlich kleineren Raum eingenommen. Auch wenn die Verantwortung des Betriebes an den Junior überging, arbeiten Vater Hans-Jürg und seine Frau Laila nach wie vor im Betrieb mit. Alle drei sprechen bei einer Tasse Kaffee offen und selbstverständlich über die Spannungsfelder der im Betrieb vereinten Generationen. Ich erlebe eine Familie, die mit Ernsthaftigkeit, enormem Engagement, beeindruckender Entschlossenheit, mit viel Herz und vor allem Humor zusammenwirken. Sie wissen um die Herausforderungen ihres Gewerbes genauso gut, wie um die Einzigartigkeit und die darin enthaltenen Chancen.
Astrid Schmid

Fortsetzung der Serie in der nächsten Ausgabe am 5. Dezember: Das Handwerk Sattler.

 


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