Traditionelles Handwerk in der Region

  05.12.2024 Reportagen

Der Sattlerberuf, ein weitläufig unterschätzter Alleskönner

Hier ist so gut wie jedes Stück ein Unikat. Ab Stange gibt’s beim Sattler kaum was. Leder ist zwar per se ein vielseitiges Material, aber zu glauben, damit den Werkstoff dieses Handwerks zu kennen, wäre vermessen. Trotz der noch ausstehenden Besuche beim Hufschmied und in der Glockengiesserei, wage ich zu behaupten, dass der Sattler in unserem Traditionshandwerks-Quartett der Spitzenreiter ist, wenn es um die Mannigfaltigkeit der eingesetzten Materialien geht. À propos Reiter: Wer in der Schweiz einen klassischen Pferdesattelmacher sucht, muss weit fahren.

Auf der Suche nach einem regionalen Sattler stellt Cédric Haueter schon bei meinem ersten Anruf klar, dass hier zwischen dem Sattelmacher und dem Carrosseriesattler unterschieden werden muss. Von Ersterem gibt’s in der Schweiz lediglich noch zwei, drei Betriebe. Obwohl ein handgefertigter Pferdesattel die Lebenserwartung eines Pferdes überdauert, leistet sich das kaum mehr ein Reiter. Grundsätzlich fertigt ein Sattler Polsterungen und Verdecke für Boote, Flug- und Fahrzeuge, sowie Reit- und Fahrradsättel. Die Werkstoffe sind bei beiden Fachrichtungen deckungsgleich, was variiert, sind lediglich die Pferdestärken der Werkobjekte.
Das Ehepaar Cédric und Doris betreiben schon seit Jahrzehnten mit viel Herzblut die Autosattlerei Haueter. Zu Spitzenzeiten waren sie mit ihrer Werkstatt im Bahnhof Steffisburg einquartiert. Damals fand sich, schon alleine des Standorts wegen, sehr viel Laufkundschaft ein. Kurz vor dem Abbruch des Güterschuppens und der Umgestaltung des Bahnhofs Ende 2021, haben sie sich räumlich verkleinert und die Arbeitsstätte neben die Wohnstätte in Fahrni verlegt. An Aufträgen fehlt es den beiden jedoch keinesfalls. Die Bücher sind voll und das Unternehmerpaar unterstreicht damit ihr Motto: Wir machen vieles. Und oft noch mehr.
Cédric startet in mehreren Versuchen den V-8 Motor des Pink Cadillac Cabriolet Jahrgang 1959. Mit tiefem Blubbern rollt das über 5 Meter lange Elvis Presley Mobil aus der Halle. Am Steuer ein augenfällig pläsierlilcher Autoliebhaber. «Wir bekommen oft solche Exoten für Komplett-Restaurationen des Innenlebens». Bei aller Freude schwingt aber auch immer das Risiko mit, bei der Arbeit einen Schaden am Objekt anzurichten. Äusserste Sorgfalt ist geboten, denn das geht bei solch seltenen Oldtimern rasch ins Geld. Doris links am Heck stehend, er rechts, beschäftigen sich die beiden mit dem Skelett der Verdeckhalterung. Glücklicherweise ist Cédric's erster Beruf Metallbauschlosser, das erweitert seine Reparatur-Palette erheblich. Mit Doris, der gelernten Innendekorationsnäherin, bilden sie eine Kombination mit schier unerschöpflichen Möglichkeiten und einer Materialbandbreite, die nichts auszuschliessen scheint. Neben dem erwarteten Leder stehen jede Art von Textilien, Karton, Schaumstoff, Teppich, Fell, Holz, Metall, Blache und sogar Scheiben im Einsatz. Vom Maulkorb für Hunde, über Handschuhe für einen Schwertkämpfer, ja sogar die Sitze auf der MS Lötschberg auf dem Brienzersee und die Barhocker der alten Selve-Bar gingen über ihre Werkbank. Immer mal wieder dürfen sich die beiden über Aufträge aus der Industrie freuen. Dennoch, das Sattlergewerbe bleibt ein Einzelstück-Geschäft.
Ähnlich wie beim Drechsler setzt auch er auf die alt bewährten Maschinen. Die Schubladenwand im Atelier enthält einen Fundus abgegriffener Werkzeuge in allen Grössen und Ausprägungen. Er erklärt mir den Lederhobel, das Nähross, führt die 60-jährige Pfaff Nähmaschine vor, bis er mir schliesslich demonstriert, wie simpel die von Hand angekurbelte Riemen-Lochstanzmaschine in regelmässigen Abständen ein Loch ins Leder stanzt. Beim Kaffee nebenan in der Wohnhausküche bekomme ich eine Bildersammlung zu sehen, die eindrücklich zeigt, dass sich ein Sattler auf jedem Terrain bewegen kann. Das Vorzelt und die Boots-Plane gehören genauso zum Alltag, wie der Steuerrad-Bezug, der Coiffure-Stuhl, die Kutscherbank, der antike Kinderwagen oder Grossmutters Couch. Über die Frage, was ihnen an ihrem Handwerk so gefällt, müssen sie nicht lange nachdenken. Sie schätzen neben der Vielseitigkeit der Werkstoffe und der wechselnden Reparatur-Gegenstände, die permanente Bewegung. Oft arbeiten sie gerade an Fahrzeugen über Kopf, auf den Knien und in kleinsten Kofferräumen, mal im Freien, Vorort beim Kunden, dann wieder im beheizten Atelier. «Während wir den Kunden glücklich machen, haben wir Spass bei der Arbeit. Ich würde den Beruf jederzeit wieder lernen», sprudelt es aus Cédric. Fakt ist aber, dass das Handwerk, gemäss der Studie «Traditionelles Handwerk», die unter anderem das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie in Auftrag gegeben hat, im Gefährdungsgrad «mittel gefährdet» geführt wird. Schon damals in seiner Ausbildung wurde schweizweit lediglich eine einzige Klasse ausgebildet. Das habe sich bis heute nicht verändert. «Wenn du reich werden willst, solltest du nicht ins Sattlergewerbe einsteigen. Aber was habe ich von einem Haus mit Pool, wenn ich stattdessen jeden Tag mit Freude auf die Arbeit gehe und Dinge herstelle, die mich nicht nur mit Freude, sondern auch mit Stolz erfüllen?»
Astrid Schmid

Fortsetzung der Serie in der nächsten Ausgabe am 12. Dezember: Das Handwerk des Hufschmieds. Das Handwerk des Drechslers: siehe Ausgabe vom 28. November 2024.

 


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