Traditionelles Handwerk in der Region

  19.12.2024 Reportagen

Glockengiesserei, hoch gefährdet und voller Gegensätze.

In keinem der bisher besuchten Handwerksbetriebe bin ich auf so zahlreiche Polaritäten gestossen, wie hier bei der Familie Gusset in Uetendorf, die seit nunmehr 200 Jahren Glocken giesst. In dieser Stätte vermischt sich nicht nur Hitze mit Kälte, Kupfer mit Zinn, Archaisches mit Filigranem, nein, hier geht es um Allianzen zwischen Tradition, Klang, Unvergänglichem und drohender Endlichkeit. Der Weltcup Adelboden kehrt hier genauso ein, wie das Mittleländische Schwingfest, dann und wann sogar auch mal Weltprominenz.

Wie auf einer Zeitreise mache ich beim Betreten der Werkstatt einen Sprung ins letzte Jahrhundert. Etwas düster mit hoch angelegten Fenstern, öffnet sich vor mir eine grosse, spärlich beleuchtete Halle. Die stärkste Lichtquelle hängt über einem mittig angebrachten, grossen Arbeitstisch. Da treffe ich auf Peter Gusset, der sich mit festem Händedruck und sympathisch schalkhaftem Lächeln als Pipsu vorstellt. Er führt die Giesserei mit seinem Bruder Housi nun schon in der 8. Generation. Eine Nachfolge wurde noch nicht gefunden und die Zukunft der Glockengiesserei ist ungewiss. Ausbildung gibt es in der Schweiz keine, was mitunter den Umstand begünstigt, dass das Glockengiessen in der Studie, die vom früheren Bundesamt für Berufsbildung und Technologie, dem heutigen Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, in Auftrag gegeben wurde, im Gefährdungsgrad «hoch gefährdet» eingestuft wurde.
Wie im Reflex greift meine Hand in den auf dem Tisch aufgehäuften braunen Quarzsand. Er fühlt sich weich und kühl an, rinnt zwischen meinen Fingern durch. Über ein Förderbandsystem wird er aus dem Keller durch die Halle bis in einen Behälter über dem Tisch transportiert, wo er optimal angefeuchtet als Formmaterial dient. Gegenüber von Pipsu arbeitet Christoph an einer Giessvorlage. Behutsam streicht er mit einem Löffel die Sandoberfläche glatt. An diesem Tisch werden aus Sand in einem mehrstufigen Verfahren in Teilschritten Kern- und Mantelstück anhand von Glockenmodellen geformt. Danach werden die zweiteiligen Formkasten aufeinander gepasst und verriegelt. Mit einer Stricknadel sticht Christoph bedacht Gusskanäle in den Sand, durch welche die Glockenspeise hindurch rinnen, resp. die Luft entweichen kann.
Abgelenkt vom gleichmässigen Rauschen, das die Werkstatt erfüllt, schaue ich mich nach der Geräuschquelle um. An der Wand hinter mir entdecke ich zahlreiche Glockenmodelle in allen Dimensionen und Formen aufgereiht. Das Geräusch geht vom elektrisch betriebenen Schmelzofen aus, den Housi an Giesstagen bereits um 6.30 Uhr aufzuheizen beginnt. Flink steigt der grosse Mann alle paar Minuten die vier Treppenstufen zum Ofen hoch, öffnet den Deckel, wirft ein Stück Metall rein, wühlt mit einem langen Stock im Feuer, dessen rotes Licht sich in seinen Brillengläsern spiegelt und steigt wieder runter. Dazwischen arbeitet er an den vorbereiteten Mantelstücken der Glocke. Er nimmt einen Stempel nach dem anderen aus der Halterung und presst ohne Kraftanwendung spiegelverkehrte Sujets in den Sand am Rand des Guss-Negativs. So kommen je nach Bestellung, Inschriften, Kantonswappen, Schwinger oder Hornusser auf den Glockenmantel. Die Korrekturfunktion wird hier vergebens gesucht. Exakte Arbeitsweise ist unabdingbar und wie Housi an diesem Vormittag wiederholt zu sagen pflegt: «Nume nid jufle, süsch chunnts nid guet». Und trotzdem nehme ich bei den drei Männern im Verlaufe des Vormittags zunehmend Anspannung wahr. Auf der Giesszeile vor dem Ofen sammeln sich je länger je mehr Formkasten in allen Grössen und die Temperatur im Ofen nähert sich der magischen Grenze von 1280 Grad.
Pipsus Frau Iris unterstützt den Betrieb schon seit Jahren im Büro oder auch in der Sattlerei, wo sie die breiten Rindsleder-Riemen an den Glocken anbringt. Sie zeigt mir neben ihrer Werkstatt ein beinahe leeres Glockenlager und erklärt, dass die Bestellungen so zahlreich vorliegen, dass kaum Gelegenheit bleibt, das Lager aufzustocken. Die aktuelle Lieferfrist für eine Glocke liegt bei rund 3 bis 4 Monaten. Die meisten ihrer Kunden wissen das und bestellen entsprechend früh. Stolz berichtet mir Iris, dass sich im Britischen Königshaus eine Gusset-Glocke befindet und Phil Collins genauso wie Arnold Schwarzenegger eine besitzt. Eines von vielen Highlights war aber der Besuch von Fürst Albert von Monaco, der von diesem Geschenk so fasziniert war, dass er kurzerhand beschloss, sich selbst ein Bild von der Herstellung zu machen. Gerade bei sehr persönlichen Glocken erlebe sie oft, dass sowohl Schenkende, also auch Beschenkte bei der Abholung feuchte Augen bekommen. Eine Glocke vermag durch ihre Einzigartigkeit Werte, Ereignisse und Emotionen zu verbinden, die die Menschen berühren. Sei es ein Sieg am Chuenisbärgli, das Zelebrieren einer Tradition, der Besuch am Eidgenössischen, das Bewusstsein für die Heimat oder schlicht die Reinheit des Klanges.
Pipsu ruft: «Es geht los»! In der Zwischenzeit wurde noch ein zweiter Ofen beheizt, der den Schmelztiegel enthält. Um zu verhindern, dass der Krug aus Grafit beim Empfangen der Glockenspeise aus dem Schmelzofen Schaden nimmt, muss auch er auf eine Minimaltemperatur von 800 Grad aufgeheizt werden. Die Vorfreude auf das Giessen und die Neugier auf das Resultat generiert auch bei den «alten Hasen» nach all den Jahren und der immensen Erfahrung noch immer eine gewisse Aufregung, von der ich mich gerne anstecken lasse. Dann ist es soweit! Housi öffnet den Deckel des kleinen Ofens, bevor der glühende Schmelztiegel rausgehoben und in der dafür vorgesehenen Giesshalterung platziert wird. In der eher kalten Halle breitet sich eine angenehme Wärme aus. Christoph und Housi bewegen den Tiegel mit der Tragevorrichtung vor den Schmelzofen, giessen durch eine Kippbewegung des Ofens die lavaartige Glühmasse in den Behälter, um anschliessend der Giesszeile entlang zu gehen und Form um Form zu befüllen. Gegenüber steht Pipsu, koordiniert, beobachtet scharf und bewegt mit einer Stange die Masse im Tiegel. Von den begossenen Formen spicken kleine glühende Tropfen auf den Hallenboden, wo sie auskühlen und beim Drübergehen für ein Gefühl von Kugellager unter den Schuhen sorgen. Zur Wärme gesellt sich nun ein dichter Rauch und kaum ist die letzte Form gegossen, beginnen die Männer bereits damit, die ersten Formen auf einem Gitter zu öffnen, sowie das Gussgut vom Sand zu befreien. Die ausgegossenen Giesskanäle werden abgetrennt und noch bevor die Glocke vollständig ausgekühlt ist, testet Pipsu mit einem leichten Hammerschlag den Klang. In den nächsten Schritten steht die Reinigung durch Sandstrahlen auf dem Programm, wonach an der Drehbank für den nötigen Glanz gesorgt wird.
Bei meinem Besuch habe ich ein Handwerk der Extreme erlebt. Was die Akteure mit ihrer Passion, ihrer Ernsthaftigkeit und ihrem unglaublichen Geschick erschaffen, hat das Potential, die Menschen auf ganz verschiedene Weise zu bewegen. Etwas von Bestand eines Handwerks, das zu verschwinden droht. Astrid Schmid

Das Handwerk des Drechslers: 28. November 2024.
Das Handwerk des Sattlers: 5. Dezember 2024.
Das Handwerk des Hufschmieds: 12. Dezember 2024.

 


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