Ein Klanglabor am Tor zu den Alpen
03.07.2025 ReportagenJunge Studierende und erfahrene Chorleitende proben vom 5. bis 11. Juli 2025 täglich mit einem 120-köpfigen Chor. Die Sommerakademie schafft Raum für musikalisches Feilen auf höchstem Niveau – zwischen Probe, Partitur und Publikum.
Als die Tür zum Kirchgemeindehaus an der Frutigenstrasse aufgeht, schlägt einem sofort die konzentrierte Stimmung entgegen. Professor Raphael Immoos, künstlerischer Leiter, steht mitten im Halbkreis, die Partitur in der Hand. Sein Blick sucht denjenigen des Dirigierenden, erfasst jede Bewegung im Raum. «Wir denken Chorleitung neu», betont er ruhig. «Weg vom hierarchischen Dirigat, hin zu echter Zusammenarbeit auf Augenhöhe.» Im Zentrum steht das gemeinsame Musizieren – nicht das Dirigieren von oben.
Immoos prägt den Dirigierkurs seit 2014 – was als regionales Weiterbildungsangebot begann, hat sich unter seiner Leitung zu einem international beachteten Meisterkurs entwickelt. Immoos lehrte viele Jahre an der Hochschule für Musik Basel, leitet aktuell die Basler Madrigalisten und war von 2000 bis 2013 Chef des Akademischen Orchesters Basel. Seine Vorliebe gilt der zeitgenössischen Musik und selten gespielter Werke des 19. und 20. Jahrhunderts.
Seit 2005 hat die Sommerakademie ihre feste Heimat in Thun – 2025 geht der Verein Sommerakademie Thun mit seinem Dirigierformat in die 20. Ausgabe; vor 35 Jahren entstand die Projektidee mit ersten Austragungen an wechselnden Standorten.
Wo Klang entsteht – und Gemeinschaft
Mit dabei sind jeweils maximal sechs Dirigierende, darunter drei Musikstudierende und drei erfahrene Laien-Chorleiterinnen oder -Chorleiter. Bis zu sieben Stunden täglich feilen sie mit dem Akademiechor an Klang, Struktur und Ausdruck. Kurz vor dem öffentlichen Auftritt findet die Hauptprobe mit dem Ensemble Musica Viva Schweiz statt.
«Die Woche ist für uns wie ein grosses Klanglabor», sagt Vereinspräsident Bruno Flückiger, Bass im Chor. «Und gleichzeitig ein Gemeinschaftswerk.» Flückiger ist seit Jahren aktiver Chorsänger. Neben seinem ehrenamtlichen Engagement in der Organisation investiert er eine ganze Juli-Ferienwoche in sein Herzensprojekt. «Was wir hier erleben, ist einmalig.» Damit steht er nicht allein: alle 120 Sängerinnen und Sänger tun es ihm gleich – sie bringen nicht nur Zeit mit, sondern übernehmen als Auswärtige oft auch ihre Unterkunftskosten. So gelingt das Ganze im Rahmen eines Gesamtbudgets von rund 100 000 Franken – getragen von zahlreichen Gönnern, Unterstützenden und dank der Infrastruktur der Reformierten Kirche Thun. Die Kurskosten für die sechs Dirigierenden sind unter diesen Bedingungen fast schon symbolisch zu verstehen.
Ein besonderer musikalischer Partner ist zudem das Sinfonieorchester Ensemble Musica Viva Schweiz mit der Konzertmeisterin Mirjam Sahli. Doch das komplexeste Instrument der Woche bleibt der Chor selbst. «Das ist das grösste Instrument, das ein Musiker spielen kann», sagt Immoos augenzwinkernd. Chor und Orchester bilden ein feines Geflecht – und nur wer Fingerspitzengefühl entwickelt, kann es wirklich führen.
Chorleitung als Haltung – nicht als Hierarchie
Die Aufnahme in den alljährlichen Dirigierkurs ist selektiv: «Video und Motivationsschreiben entscheiden, wer die «Grösse» hat, vor einem imposanten Chor zu stehen und ihn mitzunehmen», so Immoos. Haltung schlägt Perfektion: Ein guter Chorleiter ist Musiker, Pädagoge, Kommunikator und Mensch in einem. Nicht der eigene Glanz zählt, sondern was er oder sie im Chor zum Leuchten bringt. Oder wie Raphael Immoos sagt: «Ein Dirigent verwirklicht nicht sich selbst – er hilft dem Chor, sein Bestes zu geben.»
Ein Blick in die Proben zeigt, wie nah Theorie und Praxis beieinanderliegen: Ein Studierender hebt den Arm, der Chor setzt an – doch irgendetwas passt nicht. Raphael Immoos tritt hinzu, hört kurz hin, gibt ein stummes Zeichen. Es ist kein Tadel, sondern ein Impuls. Wenige Minuten später klingt dieselbe Stelle runder, tragender. «Es geht nicht darum, laut zu sein, sondern zu hören», sagt er bedacht. «Auch als Leitung.» Diese Haltung zieht sich durch die ganze Woche: lernen, begleiten, zurücktreten. Chorleitung wird zur Schule des Miteinanders. «Ich habe selten so konzentriert und gleichzeitig mit so viel Freude gesungen», resümierte eine Sängerin beim Apéro nach einem vergangenen Abschlusskonzert. «Man spürt, dass wir alle an etwas Gemeinsamem arbeiten.» Auch frühere Kursteilnehmende bestätigen diesen Eindruck: «Im Dirigierkurs der Sommerakademie habe ich unglaublich viel gelernt! Eine einzigartige Möglichkeit, gut angeleitet in die Arbeit mit Chor und Orchester einzusteigen», schreibt Naomi S. «Ein toller Kurs: Guter Lehrer, gute Mitstudierende, spannendes Werk, aufmerksamer und wohlwollender Chor, super Orchester – sehr intensiv und lehrreich!», meint Fiona V. F. Und Jakob W. hält fest: «Auf der Sommerakademie kann man sich eine Woche lang ganz auf das eigene Dirigieren konzentrieren – man ist Teil eines grossen, lebendigen Teams.»
Der Akademiechor und der Seniorenchor der Sommerakademie stehen erfahrenen Chorsängerinnen und Chorsängern aus der ganzen Schweiz offen. Beide Chöre werden jährlich neu zusammengestellt – eine bewusste Einladung an alle, die Lust haben, dieses besondere Format hautnah zu erleben und Teil eines musikalischen Projekts mit Tiefgang zu werden.
Was bleibt? Viele der früheren Teilnehmenden stehen heute selbst vor Chören oder sind in Ausbildung – die Sommerakademie wirkt nach. Netzwerke entstehen, Türen öffnen sich. Oft bleiben die Verbindungen über Jahre bestehen – menschlich wie musikalisch. Die Sommerakademie versteht sich dabei nicht nur als Kurs, sondern als Plattform für Begegnung und Entwicklung. Ein Ort, an dem musikalische Haltung und zwischenmenschliche Resonanz gleichermassen zählen. Hochklassige Konzerte sind weitherum beliebt. So füllen sich erfahrungsgemäss die Reihen in der Kirche Scherzligen wie auch in der Stadtkirche erfreulich gut. Draussen rauscht die Aare und unter den Kirchendächern stehen am Donnerstagnachmittag der Seniorenchor und am Freitagabend der Akademiechor mitsamt Orchester in gespannter Erwartung. Noch einmal alles geben – das ist die Stimmung. Und wenn heuer die einstudierten Chorwerke erklingen, ist es, als atme der Raum mit. Dirigierende und Chor sind jetzt eins, verbunden durch Takt, Blick und Vertrauen. Kein Wort wird gesprochen – und doch ist alles gesagt.
Barbara Marty
Sommerakademie-Konzerte
Donnerstag, 10. Juli, 15 Uhr
Kirche Scherzligen, Thun
Seniorenchor singt
César Franck: Sieben Worte Jesu am Kreuz
Kollekte: 40 Franken
Freitag, 11. Juli, 19.30 Uhr Stadtkirche, Thun
Akademiechor singt
Luigi Cherubini: Requiem in c-Moll mit Ensemble Musica Viva Schweiz Im Anschluss: Apéro
Kollekte: 40 Franken
Verein Sommerakademie Thun
www.somak-thun.ch