Ein Dorf im Generationenwandel
09.02.2023 Reportagen, GurzelenAbseits der grossen Durchgangsstrassen, weitab von Stadtlärm und Trubel zählen die Werte des wahren Landlebens. Die Leute von Gurzelen haben sich ihre Wohnlage wohlüberlegt. Ein aktives Vereinsleben sorgt in der typischen Streusiedlung für den Zusammenhalt. Gemeindepräsident Peter Aebischer gibt einen Einblick in das lebenswerte, ländliche Dorf.
Kein geringerer als der berühmte Schweizer Maler Ferdinand Hodler (1853–1918) besass hier das Burgerrecht. Einige seiner Vorfahren lebten also in Gurzelen, wo man häufig Hodler und Hänni heisst. Die Gutbetuchten von Rang und Namen kamen um die Jahrhundertwende vor allem in den Ort, um die sogenannte Sommerfrische zu geniessen. Der ehemalige Sommersitz «La Retraite» im Schlingmoos zeugt davon und wurde von der Familie von Wattenwyl erworben.
Heutzutage ist Gurzelen ein typisches Wohn-Dorf, wo die Leute leben – zur Arbeit pendeln sie zumeist im Auto Richtung Thun oder Bern. «Unser Ort gilt raumplanerisch als ÖV-unerschlossen», hält Peter Aebischer, Gemeindepräsident, fest. Zwar verkehrt ein Postauto nach Uetendorf, von wo die Reisenden auf den Zug nach Thun und Bern umsteigen. Es bestünde zwar durchaus Potential zum ÖV-Ausbau, sagt Aebischer und bedauert: «Es ist schade, dass wir ÖV-technisch so am Rande stehen gelassen werden!» Doch die Lage neben den Hauptverkehrsachsen macht einen Ausbau der ÖV-Verbindungen nicht einfach. Wer in Gurzelen wohnt ist sich dessen bewusst.
Schliesslich hat man sich für das wahre Landleben, fernab von Durchgangsverkehr und Lichtverschmutzung, entschieden. Man arrangiert sich: Viele verfügen über ein eigenes Auto und Kinder werden zu Freizeitaktivitäten häufig gefahren. Die Sportlichen fahren sowieso in die Nachbarsgemeinden Seftigen, Uetendorf, Forst-Längenbühl, Wattenwil und Burgistein per Velo und E-Bike. Die Strecke geht auf dem Hinweg jeweils flott eher bergab und auf dem Rückweg heisst es dann, in die Pedale zu steigen und den «Stutz» hoch ins Landidyll zurückzulegen. «Wir sind fast schon im Berggebiet», schmunzelt Aebischer. So beträgt der Höhenunterschied fast 140 Meter von der Talmulde der Müsche bis zum höchsten Punkt.
Die Kantonsstrasse hört just bei der historisch bedeutsamen und lauschigen Kirche auf. Die übrigen Strassen auf Gemeindeebene umfassen ein riesiges Netz. Für dessen Unterhalt sind stetig grosse und herausfordernde Aufwände nötig, die es zu priorisieren gilt. «In den letzten drei Jahren haben wir etliche Strassen saniert und auch viel im Tiefbau geleistet», berichtet Aebischer.
Gurzelen verjüngt sich
In der malerischen Hügellandschaft des Thuner Westamtes wohnten vor 260 Jahren 235 Menschen. Heute sind es knapp 900. Dazu der Gemeindepräsident: «In den letzten Jahren sind viele Familien mit Kindern in unser Dorf gezogen.» Im Ort gibt es zwei Basisstufen ab Kindergarten. Drittes bis sechstes Schuljahr wird in zweistufigen Klassen geführt. Ab der siebten Klasse besuchen die Schüler:innen das Oberstufenzentrum im fünf Kilometer entfernten Wattenwil.
Peter Aebischer zog vor 18 Jahren mit seiner Frau, einer gebürtigen Gurzelerin, in den typischen Zuzüger-Ort. Davor lebte der gebürtige Belper zehn Jahre in Seftigen und Uetendorf. Seit 2017 ist der Familienvater und gelernte Elektriker/Projektleiter mit grossem Engagement Gemeindepräsident.
Die Streusiedlung ist übersichtlich und die Leute kennen sich: in irgendeiner Form trifft man sich immer wieder. Zwar nicht im Laden oder in der Dorfbeiz. Stattdessen entstehen Begegnungen etwa bei den Schützen, der Musikgesellschaft, dem Männerchor, dem Frauenverein oder den Linedancers, sowie im Gemeinderat oder in einer Kommission. Gurzelen freut sich über eine stattliche Anzahl Vereine, die etwa auch zu Konzert, Theater und Höcks einladen. Im August 2023 findet eine grosse Dorfsause im Mehrzweckgebäude statt: Der Männerchor feiert das 175-Jahr-Jubiläum. Gurzelen ist geprägt von diesen Vereins-Aktivitäten. So kann etwa der grosse Dorfsaal mit 200 Sitzplätzen für Feste und Versammlungen gemietet werden.
Vom kleinen Hof bis Gurzelen
Die früheste schriftliche Erwähnung des Gemeinde- und Ortsnamens erscheint in einem Handänderungsdokument von 1254, also vor über 750 Jahren. Erste Spuren von Menschen lassen sich durch Funde bereits aus vorchristlicher Zeit belegen. Der Name Gurzelen kommt aus dem galloromanischen «corticella», was kleiner Hof heisst, und auf burgundische Zuwanderung deutet.
Das Gemeindegebiet von Gurzelen ist wesentlich von den einst bis zu 800 Meter dicken Gletschermassen der Eiszeiten geformt. Sie pressten den Untergrund zu harten Sandstein- und Nagelfluhschichten, schliffen Hügelformen und schoben Senken aus, die später zu Mooren aufgefüllt wurden. Beim Gletscherrückzug blieben die auf ihrem Rücken über weite Distanzen herangetragenen Steine liegen, so der aus dem Grimselgebiet stammende «Fuchsenstein» im Steinhölzli und der Findling im Wald bei der Kühweid aus der Region der Kleinen Scheidegg. Diese Findlinge sowie die grosse Anzahl von schützens- und erhaltenswerten Bauten, die Zwillingsbuchen im Müscheholz und der Geistsee sind allemal einen Besuch wert.
Gurzelen ist bäuerlich geprägt. Aktuell sind 21 landwirtschaftliche Betriebe aktiv. Man verzeichnet einen leichten Rückgang. Der klassische Strukturwandel findet statt. «Zum Glück gibt es unsere Landwirt:innen immer noch!», so der Gemeindepräsident. Einige haben sich zu Betriebsgemeinschaften zusammengeschlossen, andere beschäftigen sich derzeit mit der Frage der Nachfolge. Als Mitglied des Fördervereins Gantrisch vermarkten einige Gurzeler Landwirt:innen ihre Hof-Produkte mit dem entsprechenden Label.
Veränderung und Anpassung
In den letzten Jahren ist die ganze Gemeinde im Thun-Westamt sehr divers geworden. Der Gemeindepräsident freut sich: «Bei uns gibt es Menschen von allen Ständen und in jedem Alter – «aller Gattig Lüt halt äbe». Zumeist sind da KMU und Kleinstbetriebe von A bis Z am Werk. Charakteristisch ist auch im Gewerbe das Übersichtliche, das Kleine mit wenigen Mitarbeitenden.
«Die veränderten Wetterlagen machen uns zu schaffen, und wir müssen lernen damit umzugehen», betont Aebischer. Starkregen überflutet Bäche und Felder und das Wasser lässt sich dann nicht wirklich leiten. In der Gegend um Unter-Gurzelen bis zur «Sagi» versucht man den Bachlauf der Müsche zu stabilisieren, um Erosionen entgegenzuwirken. Das Bauprojekt beginnt voraussichtlich Ende Jahr. Zudem hat die Gemeinde mit dem Bau von Wassertransportleitungen auch Strassen saniert und grosse Investitionen getätigt. Auch wurden Entwässerungsanlagen erneuert, was einige verkehrstechnische Beeinträchtigungen ergab. Nun sind diese Grossprojekte abgeschlossen und die altbekannte Ruhe kehrt wieder ein.
Barbara Marty
Zahlen und Fakten
Gemeinde: 3663 Gurzelen
Einwohner: 890
Fläche: 452 ha
Wald: 52 ha
Höchster Punkt: 728 m ü. Meer
Steuerfuss: 1.83%
www.gurzelen.ch