Liegt da wirklich jemand im Sarg?

  11.11.2021 Reportagen

«Grenzen erfahren» – so das Thema der Neuland Ausstellung Thun. Die allerletzte Grenzerfahrung im Leben eines Menschen ist der Tod. Und obwohl er alle betrifft, ist er noch immer ein Tabu. Das älteste Thuner Bestattungsunternehmen, die Allgemeine Bestattungs AG (ABAG), holt den Tod zurück mitten ins Leben. Dabei setzt die ABAG sowohl auf Tradition als auch auf neue Wege.

«Liegt da wirklich jemand im Sarg drin?», fragt die Tochter im Teenager-Alter ihre Mutter beim Blick in den Bestattungswagen der Allgemeinen Bestattungs AG. Nein, natürlich ist der Sarg leer. Aber der Blick ins Innere des dezenten, blauen Autos soll durchaus zu Fragen anregen und die Gelegenheit bieten, dass man nicht erst ins Gespräch mit Bestattern kommt und sich mit der Thematik rund um Sterben und Tod beschäftigt, wenn man selber betroffen und in Trauer ist.
Die beiden Bestatter Ursina Neuhaus und Dominic Zürcher sind mit ihrem Stand an der Neuland präsent, um Berührungsängste abzubauen. «Grenzen erfahren» ist das Motto der Messe.
Wer tagtäglich mit den Themen Sterben, Tod, Abschied und Weiterleben konfrontiert wird, der beschäftigt sich unweigerlich immer wieder auch mit verschiedenen Grenzerfahrungen.

Was kommt nach dem Tod?
In ihrem Berufsalltag, vor allem aber auch in Privatgesprächen, realisieren Ursina Neuhaus und ihr Kollege Dominic Zürcher, dass viele Menschen sich fragen, was nach dieser Grenze des Todes geschieht. Oft wüssten Angehörige nicht, welche Möglichkeiten es rund um eine Beerdigung gibt. «Aber die Hemmschwelle, den Fuss in ein Bestattungsunternehmen zu setzen, ist dann doch zu hoch», erzählt Dominic Zürcher. Deswegen setzt die Allgemeine Bestattungs AG auf neue Wege und mischt sich mitten unter die Leute, mit einem Stand in der Thuner Innenstadt oder eben an der Neuland-Messe.
So wollen sie den Tabu-Themen Tod und Trauer ihren Schrecken nehmen und zeigen, dass Bestatter Menschen sind, wie Du und ich. In der Tat entsprechen die Beiden nicht dem gängigen Klischee des grummligen älteren Mannes, wie man es beispielsweise aus dem Fernsehen kennt. Sie sind jung, aufgeschlossen, kommunikativ – vor allem aber auch einfühlsam und wirklich interessiert an den Geschichten ihres Gegenübers, das merkt man schnell.

Kerzen anzünden für die Liebsten
Viele der Besucher, die beim Stand der Allgemeinen Bestattungs AG vorbeischauen, erzählen von ihren eigenen Verlusterfahrungen. Von ihren Liebsten, die sie vermissen. In einer geschützten Ecke haben die Bestatter deswegen eine Kerzenschale aufgestellt, direkt unter einem Herz-Blumenkranz. Hier darf jeder, der möchte, innehalten, einen kurzen Moment der Ruhe während der Messe geniessen und seiner Liebsten gedenken.
Besucherin Damaris Brand und ihre Tochter zünden eine Kerze für die verstorbene Oma an.
«Es ist so wertvoll und schön, dass ihr hier seid und man über dieses Thema reden kann. Zu einem Zeitpunkt, zu dem man sozusagen noch neutral unterwegs, also noch nicht betroffen ist. Auch für die Kinder finde ich das unglaublich wertvoll, dass man über dieses Thema spricht, es betrifft uns ja alle.»
Die Tochter ist denn auch sehr interessiert und neugierig. Das ist typisch und zeigt sich während der Messe öfter. Kinder haben noch einen natürlichen Umgang mit dem Tod. Sie sind «gwundrig», wollen ins Auto schauen, stellen Fragen.

Bestatter geben Halt und Trost
«Ist das eine Urne?», will die Tochter wissen und bestaunt das Urnengefäss mit dem Aufdruck des Thuner Schlosses. Mutter und Tochter verweilen längere Zeit am Stand. Als sie weiterziehen, meint Damaris Brand, es sei vor allem so schön gewesen, zu sehen, dass es jemanden gibt, der einen in der Trauer begleiten würde. Die Erkenntnis, dass die Bestatter nicht nur da sind, um sich um den Verstorbenen zu kümmern, sondern vor allem auch, um den Hinterbliebenen Halt zu geben. Das sei tröstlich.
Genau das wollen Ursina Neuhaus und Dominic Zürcher mit ihrer Präsenz erreichen.
Deswegen war vor Kurzem auch ein auffällig knallroter Oldtimer mit Anhänger mitten im Bälliz anzutreffen.
Was aussieht wie ein oldschool Camper ist ein alter Bestattungsanhänger. Es scheint, als brauche es manchmal ein Auto, um Hemmschwellen zu senken und in Kontakt zu kommen.
Ach in der Innenstadt waren die Reaktionen auf den Stand durchwegs positiv.
«Spitze ist das, einfach super. Wir sollten uns viel mehr Gedanken machen über den eigenen Tod und wie wir einmal beerdigt werden wollen», findet eine Dame im Gespräch mit Bestatterin Ursina Neuhaus. Danach studiert sie einen Fragebogen mit dem Titel «Bestattungswunsch». Aufbahren – ja / nein, kann man da beispielsweise ankreuzen. Oder: Eigene Kleider – ja / nein. Kremation oder Erdbestattung? Alles Fragen, die uns früher oder später selber betreffen. Und auf die die meisten von uns noch keine Antwort haben.

Grenzen verschieben
Aber sind es wirklich Themen, die mitten auf die Strasse gehören? In die Innenstadt von Thun? Oder an eine Messe wie die Neuland? «Unbedingt! », sind Dominic Zürcher und Ursina Neuhaus überzeugt. Es scheint, als müsse man Grenzen manchmal nicht nur erfahren, sondern sprengen – oder zumindest verschieben. Es sei wichtig, den Tod nicht auszuklammern und zu verdrängen – sondern ihn wieder in unsere Mitte zu holen. «Wenn man sich zu Lebzeiten mit dem Tod auseinandersetzt, kann das sehr befreiend sein. Danach kann man sich wieder voll und ganz und vor allem viel intensiver dem Leben zuwenden».
Ursina Neuhaus leitet seit November 2020 die Allgemeine Bestattungs AG: «Mir ist es wichtig, die Menschen, denen ich begegne, maximal zu achten. Ein würdevolles und achtsames Verhalten gegenüber des Verstorbenen und der Trauerfamilie bedeutet für mich, dass ich mich in mein Gegenüber hineinversetze, mich einfühle, in welchen Schuhen der Trauernde grad steckt. Ich verhalte mich so, wie ich wollte, dass man sich mir oder meinen eigenen Liebsten gegenüber verhalten soll.».
Ihre Arbeit versteht Neuhaus nicht einfach nur als Dienstleistung. Fall abschliessen und fertig. Nein, ihr ist der Kontakt mit den Menschen wichtig. Sie steht der Trauerfamilie zur Seite, zeigt Wertschätzung und ruft auch mal im Nachhinein an, wenn sie merkt, es wäre wichtig, fragt nach: «Wie geht es Euch? Kann ich noch etwas für Euch tun?».
Die schönsten Erlebnisse in ihrem Berufsalltag sind denn auch die, wenn sie merkt, dass die Allgemeine Bestattungs AG ein Zeichen setzen kann und die Hinterbliebenen sich aufgehoben fühlen. «Kürzlich kam eine Witwe nach der Abdankung in der Kirche zu mir und dankte mir. Ich sei seit dem Tod ihres Mannes immer für sie da gewesen, in jeder Minute; und es sei genau das, was sie in dieser schwierigen Zeit gerettet habe».

Das älteste Bestattungsunternehmen der Stadt
Die Hingabe, mit der Ursina Neuhaus ihrer Arbeit nachgeht, gilt nicht nur den Verstorbenen und ihren Angehörigen, sondern auch jemandem, ohne den die Allgemeine Bestattungs AG nicht denkbar wäre: Andreas Schwarz. Er ist sozusagen das Herz der Allgemeinen Bestattungs AG. Im Jahr 2000 hat er das Geschäft übernommen, bei dem er vorher bereits als Angestellter tätig war. Zu einer Zeit, als es erst zwei Bestatter in ganz Thun gab. Schwarz hat sein ganzes Herzblut in die ABAG gesteckt, für ihn war die Arbeit als Bestatter nicht nur Beruf, sondern Berufung. Er war in vielerlei Hinsicht engagiert – man kannte und schätzte ihn enorm. Tag und Nacht war er für seine Kunden da. Vielleicht hat er zu viel Leidenschaft investiert. Im Jahr 2011 hat ihn die Realität jäh ausgebremst. Ein Hirnschlag war die Wende in seinem Leben. Zwar blieb er Inhaber der AG, allerdings konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gross präsent sein. Nicht alle Mitarbeiter schätzten sein Vertrauen – und so lief in dieser Zeit leider nicht alles optimal, fühlten sich Kunden nicht immer gebührend betreut. Andreas Schwarz dachte ans Verkaufen, da kam es im Jahr 2018 zu einem erneuten Wendepunkt. Er fand mit der Thomas Rubin Bestattungsdienst AG ein starkes Partnerunternehmen, das ihn unterstützt. Und mit Ursina Neuhaus eine würdige Nachfolgerin an der Front. Sie hat die Leitung übernommen, er ist weiterhin im Hintergrund tätig. Mit Neuhaus hat er nun eine Person an seiner Seite, welche seine Leidenschaft teilt. Zusammen stehen sie jetzt wieder für die ursprünglichen Werte und Gepflogenheiten ein.

Geteiltes Leid ist halbes Leid
Andreas Schwarz war bei den Kunden so sehr geschätzt – noch heute wird oft nach ihm gefragt, seine Dienste sind unvergessen. Und auch heute noch steckt sein ganzes Herzblut in der Allgemeinen Bestattungs AG, das berührt Ursina Neuhaus. Darum sagt sie: «Ich möchte, dass das Geschäft unter meiner Leitung wieder seinen alten Glanz erreicht. Dass es wieder so erscheint, wie als Andy noch voll und ganz präsent sein konnte. Er ist für mich ein so wertvoller Mensch, schon nur für ihn möchte ich das erreichen. Dass man wieder weiss: Wir sind das Bestattungsunternehmen mit Herz, bei uns zählen Menschlichkeit und Persönlichkeit.».Deswegen sei es so wichtig, in Dialog zu gehen, sich unter die Menschen zu mischen, ihnen zu zeigen: «Uns könnt Ihr vertrauen, wir sind noch hier – immer für Euch da», so wie es der Slogan des Unternehmens aussagt. Es gehe ihnen auch darum, aufzuklären und zu sensibilisieren. «Wir möchten den Tod wieder aus seinem Schattendasein in die Mitte der Gesellschaft zurückholen.»; damit er nicht mehr als Tabu gilt oder nur im engsten Familienkreis thematisiert werde. Denn hier gelte tatsächlich: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Das habe auch Corona deutlich gezeigt: Als Abschiednehmen plötzlich nicht mehr möglich war oder nur noch im engsten Kreis. Sie hofft, dass das wieder ändert. Dass auch Nachbarn, Freunde, ehemalige Weggefährten wieder zu Trauerfeiern kommen können. Einerseits würdigt es das Leben des Verstorbenen in seiner ganzen Fülle und mit all seinen Stationen. Andererseits ist es für viele Wegbegleiter so wertvoll, wenn auch sie sich verabschieden dürfen. «Weniger ist mehr», sei eben nicht immer zutreffend.
Aber natürlich geht es dem Team der Allgemeinen Bestattungs AG in erster Linie darum, die Wünsche und Bedürfnisse des Verstorbenen und der engsten Angehörigen zu erfüllen. Denn das sei das Wichtigste: Jeder Abschied soll so persönlich und individuell sein, wie es das Leben des Verstorbenen war. Und die Bestatter wollen vor allem Halt und Trost spenden. In einer Zeit, in der die Betroffenen Grenzen erfahren.


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