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Vom Thunersee über das grösste Weltmeer

  29.09.2022 Reportagen

Am 12. Juni 2023 startet das härteste Ruderrennen der Welt: The Pacific Challenge. Vier Unerschrockene aus der Thunersee Region sind mit dabei: die OCEAN’S 4. – Wer sind sie? Was erwartet sie und warum wollen sie 4444 Kilometer über das Meer rudern?

Während ungefähr 40 bis 60 Tagen keinen festen Boden unter den Füssen zu haben, nur mit dem Nötigsten versorgt, in einem eher kühlen 9,3 Meter langen Alu-Rennboot, der «Little Swiss Lady», zu sitzen, und dabei rund um die Uhr: zwei Stunden zu rudern und zwei Stunden zu erholen. So gestalten sich für die vierköpfige Crew an der Pacific Challenge ab 12. Juni 2023 drei Schichten bei Tageslicht und drei Schichten bei Dunkelheit. Die freien Stunden bei Tag dienen etwa der Körperpflege, dem Kleiderwaschen, der Bootspflege sowie dem Essen und Trinken. Wogegen die Zeit bei Dunkelheit bestenfalls für je 90 Minuten Schlaf am Stück sorgt, also für viereinhalb Stunden Nachtruhe.
Das ist wahrlich kein Spaziergang über die Wiese, sondern da wird das grösste und tiefste Weltmeer, der Pazifik, rudernd überquert. Diese erstmalige «Challenge» über eine Distanz von 2800 Seemeilen also 4444 Kilometern. Von Monterey Bay in Kalifornien bis nach Kauai in Hawaii treten gegen 20 Teams aus der ganzen Welt an. Die einzigen Schweizer unter ihnen sind vier Rudernde aus der Thunersee-Region. Für die vier Amateur-Sportler:innen und Laienseefahrer:innen steht fest, sowohl gegen die inneren als auch gegen die äusseren Widerstände lautet die Alternative stets die gleiche, nämlich: «Weiterrudern!»

Wenn aber ein Sturm aufkommt, hört das Team auf zu rudern und wirft den Para-Anker – eine Art Fallschirm mit einer 70 Meter langen Leine. Da die «Little Swiss Lady» aus sieben Luftkammern besteht, ist sie quasi unsinkbar. Doch kann sie kentern, richtet sich aber selber wieder auf. Bevor der Sturm lostobt, macht die Crew die Schotten dicht und verschwindet mit Essen, Trinken und den WC-Eimern in zwei Kabinen. Trotz bester Ausrüstung lösen diese massiven Kräfte bei ihnen schon etwas Bammel aus. Der morgendliche Kontakt zu den Meteorologen via Satellitentelefon ist für die OCEAN’S 4 essenziell. So erfahren die Rudernden das Relevante über Wind, Wellen, Strömungen und Wetter der nächsten 24 Stunden. Natürlich kennt die Renn-Organisation immer ihren Standort und steht alle 72 Stunden mit ihnen in Kontakt.

Bei idealsten Bedingungen schätzt man die Ruderzeit auf 40 bis 50 Tage. «Wir haben Essen für 55 Tage an Board, danach müssen wir fischen», sagt «Captain» Astrid Schmid scherzend. Sie weiss aus Erfahrung: «Die ersten zehn Tage sind hart, danach wird das Rudern im Akkord zum Alltag.» Astrid Schmid hat vor drei Jahren mit drei Frauen als erstes Schweizer Frauenteam den Atlantik in 45 Tagen rudernd überquert.

«Little Swiss Lady»
Die vier Pioniere aus der Thunersee-Region bereiten sich eineinhalb Jahre auf die Challenge vor. Sie stellen sich dabei etwa auch ihren Ängsten und lernen das Anwenden von Techniken der Selbsthypnose. Ihre «Little Swiss Lady» liegt in Einigen vor Anker, von wo aus sie wöchentlich mit den OCEAN’S 4 in den Thunersee sticht. Das Rennboot wurde extra für die Challenge konzipiert und gebaut und kann danach etwa zwölf derartige Rennstrecken fahren. Bereits gibt es Interessierte, die das Wasserfahrzeug kaufen wollen. Taufpate der «Little Swiss Lady» ist Pepe Lienhard – das Boot erhielt ja auch den Namen in Anlehnung an sein Lied «Swiss Lady».

Die Vier von hier
Die Bündnerin Astrid Schmid (51) hat in Thun ihre Heimat gefunden. Ihre Leidenschaften sind das Tauchen und das Fallschirmspringen. Die Atlantik-Überquerung hat sie geprägt und in den Bann gezogen. Als Expertin Notfallpflege hat sie gelernt, in heiklen Situationen zu agieren. Sie arbeitet auf dem Waffenplatz in Thun. Auf der «Little Swiss Lady» ist sie «Captain».
Denise Lützelschwab (41) ist aus Thun. Sie verfolgte via Tracking App die Atlantik-Route von Astrid und war fasziniert. Schon bald suchte sie beim Rudern auf dem Thunersee den perfekten Schlag. Als Selbstständige unterstützt sie Unternehmen bei Projekten. Aufgrund ihrer Ausbildung in der Gastronomie ist sie für das Essen an Board zuständig.
Philipp Kessler (57) aus Thierachern ist gelassen und voller Humor. Ob Jungfrau- oder New York-Marathon, seine Liebe zum Laufsport spiegelte sich auch im Engagement für den Thuner Stadtlauf wider. Als er an einem nebligen Sonntagvormittag zum Schloss Schadau joggte, sah er einen Skiff-Ruderer über den Thunersee gleiten. Ab da wurde das Rudern sein neues Laufen. Er arbeitet als Technical Storage Spezialist in der Computer-Branche.
Maria-Theresia, «Thesi» Zwyssig (36) aus Brienzwiler ist eine Abenteuerin. Auf ihren Solo-Reisen nach Nepal mit dem Fahrrad legte sie 25 000 Velo-Kilometer zurück und nahm in Kathmandu den 1700 Kilometer langen Great Himalaya Trail unter die Füsse. Das Ausloten von Grenzen steckt ihr im Blut. Zurück in der Schweiz, ist ihre Stimme als Moderatorin beim Berner Oberländer Radiosender zu hören.

Was motiviert sie?
Zentral für OCEAN’S 4 ist die Grenzerfahrung, die alle erleben wollen – mental und körperlich. Wobei die mentalen Aspekte stärker an ihren Kräften zehren werden, als die körperlichen Anstrengungen. Astrid bringt es auf den Punkt: «Das Überqueren eines Ozeans ist weit mehr, als das Zurücklegen einer Distanz.»
Thesi freut sich: «Hier kann ich im Team sein, gemeinsam die Herausforderungen annehmen und die Erlebnisse teilen.» Denise umschreibt ihre Motivation mehr als «ein Gefühl der Faszination für das grosse Abenteuer». Für Philipp ist das Rennen eine einmalige Gelegenheit, «eine solche Challenge mit einem Thuner Team zu realisieren.» Jetzt noch unvorstellbar und für ihn sehr reizvoll: «mein ganzes Sein zu reduzieren auf rudern, schlafen und essen.»
Ihre Reise hat schon lange vor dem Rennstart begonnen. Die Vier bereiten sich in jeder freien Minute auf das Abenteuer vor, nehmen dafür bezahlten und unbezahlten Urlaub in Kauf und investieren viel Zeit, Kraft und privates Geld. «Natürlich haben wir auch bereits einige Sponsoren an Board und werden noch weitere für unser Herzensprojekt gewinnen dürfen!» Die OCEAN’S 4 verstehen sich als Botschafter:innen einer ganzen Region: «Wir sind ein Thunersee-Projekt!» Sven Allenbach begleitet die Rudernden in der Vorbereitungszeit mit der Filmkamera – während des Rennens sind «GoPro’s» im Einsatz. Dabei entsteht ein Dokumentarfilm mit geplanter Ausstrahlung im Kino Rex in Thun. Bleibt unter dem Strich Geld übrig, wird dieser Betrag an eine gemeinnützige Organisation gespendet. Gut zu wissen: der Abfall darf nicht im Meer entsorgt werden. Noch dauert es 256 Tage bis zum Start der Pacific Challenge – auf Deutsch: friedvolle Herausforderung. Barbara Marty

Zahlen und Fakten

The Pacific Challenge: 12. Juni 2023

Strecke: Monterey (CA) bis Kauai (Hawaii)

Strecken-Vergleich: Thun bis Neufundland (CAN)

Distanz: 4444 Kilometer; geschätzte Dauer: zirka 40 bis 50 Tage

Boot: 9,3 Meter Länge; 1,9 Meter Breite; 650 Kilogramm Leergewicht

Energie: Solarpanels speisen zwei Lithium-Batterien

Kalorienbedarf: 4000 bis 6000 kcal/Person/Tag gefriergetrocknete Beutelnahrung

Toilette: Eimer – 120 Rollen wasserlösliches WC-Papier an Board – 70 Blatt/Pers/Tag

Gewichtsverlust pro Person: 10 bis 12 Kilogramm

Kostenplan OCEAN’S 4: 250 000 Franken

Tracker «Little Swiss Lady»: Gratis-App

www.oceans4.ch

 

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