«Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache»

  04.05.2023 Reportagen

So sagte es der Vater der Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldt. Der preussische Gelehrte lebte von 1767 bis 1835. Dem Berner Oberländischen Sprachgut heute auf der Spur, kommen ebenso alte Orts- und Flurnamen zu Wort und bewahrheiten in sich auf fantastische Weise die Aussage Humboldts.

Die Sprache ist nichts Beständiges. Sie entwickelt sich mit dem Menschen, seiner Bewegung und seiner Geschichte. So verändert sich der verbale Ausdruck für das Geistige seit jeher. Bestimmt ging dieser Sprachwandel vor zweihundert Jahren noch deutlich gemächlicher vonstatten als heute, wo die Sprache ständig einer Flut von medialen, digitalen und globalen Echtzeit-Einflüssen ausgesetzt ist. Zudem nimmt heute die schriftliche Kommunikation einen enorm hohen Stellenwert in unserem Alltagsleben ein.

Und wenn sich nun also die Sprache verändert, wie wirkt sich das auf «die wahre Heimat» und auf unser Gefühl für die «heimischen Matten» aus? Was bedeutet es, wenn wir die Sprache unserer Grosseltern nicht mehr sprechen, verstehen? Viele ihrer Ausdrücke kommen im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr vor. Oder: Wer unter 40 kennt und braucht auf Mundart heute noch Wörter wie zum Beispiel: «zaagge», «gänggele» oder «schnöigge»? Wer nachschlagen muss, findet die Bedeutungen auf berndeutsch.ch – ein Blick in das Schweizerische Idiotikon, Wörterbuch der Schweizerdeutschen Sprache, ist ebenso aufschlussreich und auch amüsant, so auch das Recherchieren nach Ortsnamen.

Berner Oberländisch ist vielfältig
Richten wir den Blick auf unsere nähere Umgebung im Kanton Bern, und einigen wir uns dabei auf das Berner Oberland, fällt auf: Die Ausdrücke für ein- und dieselbe Sache oder Tätigkeit können in diesem Mikrogebiet von Dorf zu Dorf variieren. Wobei diejenigen, die den Dialekt ihres Dorfes noch rein sprechen, wohl aktuell eher zu einer verschwindenden Minderheit gehören.

Lesenswert sind die vom Interlakner Benedikt Horn festgehaltenen 14 Dialekt-Versionen von ein- und derselben «kleinen Geschichte aus früherer Zeit.» Diese sind unter «Dialekte rund um den Thuner- und Brienzersee» online nachzulesen und geben einen lebhaften Eindruck der Vielfalt des Berner Oberländischen: Wo etwa ein Kerngehäuse von Äpfeln in Thun ein «Öpfugröibschi», in Spiez und Leissigen ein «Öpfelgrübscheni» und in Sigriswil ein «Öpfubätzeni» ist.

Im Fluss wie die Aare
«Gang doch e chli der Aare naa – dere schöne, schöne grüene Aare naa, dere Aare naa.» Wer hat’s gesungen? Genau: Diese Worte stammen aus der Feder des verstorbenen Liedermachers Endo Anaconda, der Berner Band Stiller Haas. So eingängig und rhythmisch diese Liedzeile, so stimmig erzählt das Stück auch von ihrem grossen Fliessen. Schliesslich ist die Aare der längste rein schweizerische Fluss.

Laut dem emeritierten Berner Dialektologieprofessor Peter Glatthard gehören die Namen der grossen Flüsse zu den ältesten Namen: Sie wurden im 3. Jahrtausend vor Christus benannt, zu einer Zeit, als sich die Sprachen Germanisch, Lateinisch, Griechisch noch nicht ausgegliedert hatten. Damals gab es im heutigen Europa eine indogermanische Ursprache, aus der sich später die europäischen Einzelsprachen herausbildeten. Es existieren keine schriftlichen Sprachzeugnisse, indogermanische Worte oder Silben sind also immer Rekonstruktionen. Eine solche Silbe ist laut Glatthard *ora/*er. Sie trägt die Bedeutung «fliessen, in Bewegung setzen». Diese Ursilbe steckt im Namen Aare, seit Spätantike und Frühmittelalter als Arura, Arula erwähnt. Die ältesten Flussnamen haben nach dem Sprachwissenschaftler als Benennungsmotiv stets die Bewegung des Wassers: fliessen, rinnen, eilen, stürzen, tropfen. Zu dieser alteuropäischen Flussnamensgebung gehören auch Rhein, Rhone, Saane, Simme, Emme und Worble. Sie alle tragen die Urbedeutung des fliessenden Wassers in ihren Namen.

Namen verleihen Identität
Neulich sagte jemand: «Früher konnte man einfach den Flurnamen nennen, um einen Standort zu präzisieren, und alle wussten sofort, wo sich der besagte Flecken befand – heute geht bedauerlicherweise das Wissen um diese Namen im gleichen Masse verloren wie GPS und Internet-Suche zunehmen.» Der Flurname bezeichnet einen kleinräumigen Teil der Landschaft (= Flur) und wurde im örtlichen Sprachgebrauch oft ausschliesslich mündlich überliefert. Aus den ursprünglichen Flurnamen sind historische und sprachliche Entwicklungen abzulesen. In ihnen spiegeln sich zudem topografische Gegebenheiten, Landwirtschaftliches, Charakteristika und Besitztum, etwa in Form von Familiennamen. Dabei gehören neben den Flussnamen die Namen der markanten Berge zu den ältesten Benennungen.

Und woher stammen die Namen der Alpen? In der Schweiz gibt es um die 7000 Alpbetriebe und jede Alp hat ihren eigenen Namen. Alpen heissen häufig nach den Tieren, die dort gesömmert werden. Etwa: Rinderalp, Schafalp oder Galtalp. Viele Alpen haben ihre Namen aber auch von einstigen Besitzern: So gehörte die Lüderenalp einmal Lüdis oder Karis Bärgli einmal dem Kari. Schliesslich gibt es noch Alpen, die ihren Namen nach ihrer Lage, Beschaffenheit haben: Die Planalp am Brienzer Rothorn ist so eine Alp – auf einem weiten, ebenen Platz (lateinisch «planus» = eben, flach).

Sowohl die Alpnamen als auch die Flurnamen verraten etwas Typisches über den Ort, das heute vielleicht nicht mehr sichtbar ist. Der Name jedoch erinnert noch daran. Durch das Benennen erschliesst sich uns der Lebensraum, wird angeeignet und vertraut – und kann möglicherweise erst dadurch zur Heimat werden. Gerne darf dieser Extrakt über die Heimat in der Sprache und die Sprache der Heimat als Einladung angenommen werden, vertieft nach den alten Bezeichnungen zu forschen.

Barbara Marty
www.idiotikon.ch
www.ortsnamen.ch
www.berndeutsch.ch


Es paar bärndütschi Wörtli

äiwääg: andersherum
abegrüpele: niederkauern
abehuure: niederknien
bäschele: sorgfältig zurechtlegen
düüssele: sich lautlos fortbewegen
Gaggelaari: Dummkopf
Gäggelizüüg: wertloses Kleinzeug
nüdere: stochern, wühlen, nörgeln
nifle: an etwas herumfingern
pänggle: werfen, schlagen, schleudern


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