Sonnenverwöhnt und freiheitsliebend

20.07.2023 Reportagen

Das Dorf Sigriswil liegt auf einer Sonnenterrasse über dem Thunersee – die Gemeinde umfasst elf Dörfer.

Elf Dörfer bilden seit 676 Jahren hier eine Gemeinde – flächenmässig ist es die grösste im Verwaltungskreis Thun. In Sigriswil werden Zusammenhalt, Tradition und Weitblick hochgehalten. Im Gespräch mit Gemeindepräsident Toni Ambühl über das Hiesige von der Seehöhe bis zum Sigriswilergrat.

Es ist nicht so leicht, sich eine Fläche von 55 Quadratkilometer vorzustellen. Das Gemeindegebiet von Sigriswil umfasst diese Dimension und Gemeindepräsident Toni Ambühl macht dazu gerne folgenden Vergleich: «Die Grösse entspricht den Flächen von: Thunersee, Oberhofen und Hilterfingen zusammen.» Toni Ambühl ist, wie er selber von sich sagt: «ein waschechter Sigriswiler – hier geboren, aufgewachsen und geblieben.» Der gelernte Förster und Landwirt wohnt mit seiner Familie im Dorf Aeschlen, im Ortsteil Erizbühl. Er ist in seinem dritten Amtsjahr und war davor bereits vier Jahre im Gemeinderat. Er hat das Präsidium zwar nicht gesucht. Doch wirkt er als Gemeindevorsteher sehr verbindend und verbindlich, was Gemeinde und Bevölkerung wertschätzen und ihn mit Freude erfüllt. Er engagiert sich zudem als Förster beim kantonalen Amt in der Abteilung Naturgefahren. «Mein zweites Standbein ist die Landwirtschaft», sagt er. Gemeinsam mit seinem Bruder betreut er in einer eigenen Betriebsgemeinschaft Milch- und Mutterkühe, ebenfalls auf dem Erizbühl. Neben seinem Wohnhaus steht ein markanter Nussbaum: «Hier geniesse ich den Blick über den See und auf die Berge am liebsten», schwärmt Toni Ambühl.

Schnell kommt er über die sonnige Gegend, unweit von See und Sigriswilergrat, noch mehr ins Schwelgen und betont vor allem: «den guten Zusammenhalt in der Bevölkerung, nicht zuletzt dank 60 sehr aktiven Vereinen.» Gut zu wissen: In Sigriswil hat man zumindest auf Vereinsebene wenig Nachwuchsprobleme. Da wird fleissig geturnt, gejodelt, geschossen und musiziert. Schliesslich gibt es weitherum bekannte lokale Veranstaltungen, wo Vereine sich präsentieren oder engagieren: «Wir haben unter anderem zwei grosse Festanlässe pro Jahr, die Aeschlen-Chilbi und der Justistaler Chästeilet», berichtet er. Und weiter: «Das Vereinsleben haben wir immer schon gelebt und das «chittet halt scho zeme.»

Das ungeschriebene Gesetz
Dementgegen steht, und Ambühl macht daraus kein Geheimnis: «die Überalterung ist eine unserer grössten Herausforderungen – jede/r Dritte ist hier im Pensionsalter.» Das charakteristische Sigriswil mit seinem Ortsbild im Chaletstil bietet ja auch viele Vorteile: Neben einer guten Infrastruktur mit Einkaufsmöglichkeiten u.a. in drei Bäckereien, zwei Metzgereien und einer Drogerie – gibt es zwei Arztpraxen und einen Zahnarzt. Die Busse verkehren zwischen Sigriswil-Dorf und Thun Bahnhof im Halbstundentakt. Fünf der elf Dörfer von Sigriswil sind aufgrund von Lage und Grösse ohne ÖV-Anschluss. Die Dörfer sind organisiert wie Vereine, mit eigener Dorfgemeindeversammlung – «das sorgt für eine gewisse Autonomie», fügt Ambühl an. Bei allem stünde die gegenseitige Rücksicht im Zentrum, innerhalb und zwischen den Dörfern, erklärt er. Interessant ist das ungeschriebene Gesetz: «Wenn ein Dorf etwas ablehnt, wird es an der Gemeindeversammlung von den übrigen Dörfern in der Regel nicht überstimmt.»

Auf Gemeindeboden gibt es rund 200 Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe. «Jedoch fehlt es an Gewerbeland», so Ambühl. Ausserdem ist man in der Gastronomie und Hotellerie sehr gut aufgestellt: über 100’000 jährliche Logiernächte bezeugen dies. Toni Ambühl betont: «Niemand setzt auf den Massentourismus!» Und gleichwohl bringt das Leben an einem derart beliebten Ausflugsziel viele Menschen in den Ort: Im Jahr 2022 passierten zum Beispiel 54’000 zahlende Gäste die Panoramabrücke zwischen Sigriswil und Aeschlen. Auf der spektakulären Hängebrücke über der 182 Meter tiefer liegenden Gummischlucht bietet sich eine grandiose Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau und den Thunersee. Sigriswil ist Ausgangspunkt für etliche Wanderklassiker ins Berner Oberland. Wo man dem Himmel so nah, liegt es daher nahe, eine Sternwarte zu haben – und es gibt eine in Schwanden.

«Wir wollen nicht enorm wachsen, lieber leicht und stetig – dabei lebenswert bleiben und zu dem Sorge tragen, was ist», bringt es Ambühl auf den Punkt. Viel wichtiger sind laut ihm: «die Familienfreundlichkeit mit entsprechenden Umgebungen.» Dazu gehören etwa auch in Zukunft das Einführen einer KITA und die Erweiterung der Tagesschule. «Auch eine grössere Turnhalle und ein Pub wären schön», sagt der Vater zweier erwachsener Kinder. Die Jungen sollen dableiben! Kurzum: ein gutes Umfeld besteht und soll da und dort noch ausgebaut werden. So erhofft man sich der Überalterung etwas entgegenzusetzen. Die Schulraumplanung läuft und man prüft Möglichkeiten. Denn mit dem Lehrplan21 verfügt auch diese Gemeinde mit ihren fünf Schulstandorten über zu wenig Schulraum.

Toni Ambühl lacht und sagt: «Die grossen Projekte gehen uns im Moment nicht aus!» Er erwähnt den Wärmeverbund mit Holzschnitzel auf dem Viehschauplatz Raft: «Voraussichtlich betriebsbereit Ende 2024 – gespiesen mit hiesigem Holz.» Auf den innovativen Forstbetrieb ist man sehr stolz: «mit zwölf Arbeitsplätzen und vier Lehrlingen!» Ausserdem stehen diese Bauvorhaben an: der Neubau der Gemeindeverwaltung mit integriertem Coop – einem Holzbau, möglichst aus Sigriswiler Holz – voraussichtlich im 2025/26 im Bau; sowie der Neubau beim Altersheim Schärmtanne von zwei Häusern zum Wohnen mit Dienstleistungen. Pikant: «Es entstehen 28 solcher Wohnungen – im Moment ist dafür die Nachfrage grösser, als das Angebot je sein wird», berichtet der Gemeindepräsident.

Als im letzten Jahr die Gemeinde Sigriswil ihr Jubiläum feierte, gedachte man dem Jahr 1347, als sich die Sigriswiler für 300 Pfund Thuner Pfennige vom Kyburger Grafen Eberhard loskauften. Dieser Freiheitsbrief ist noch heute im Original im Archiv der Verwaltung aufbewahrt. Der Name Sigriswil setzt sich aus althochdeutschen Personennamen «Sigiheri» oder «Sigirih» und «wilari» – für kleines Dorf, Weiler – zusammen. Das Wappen zeigt eine Hutte, gefüllt mit Reben und Blättern auf rotem Grund, stehend auf einem grünen Dreiberg. Die häufigen Familiennamen sind: von Gunten, Kämpf, Saurer und Tschanz.

Längst ist nicht alles gesagt über die lebhafte Grossgemeinde mit Bergdorfcharakter und ihre 150 landwirtschaftlichen Betriebe, 45 Alpen, 200 Kilometer Gemeindestrassen, ihren Zweitjänner-Brauch und ihre grosse Herausforderung: die Trockenheit, also die Wasserversorgung, besonders im Reust. Auch dazu äussert sich Toni Ambühl, zuversichtlich und mit Weitblick: «Möglicherweise gibt es eine Lösung mit der Wasserversorgung im Zulgtal.»
Barbara Marty

Zahlen und Fakten
Gemeinde: 3655 Sigriswil
Einwohner: 4925
Fläche: 5534 ha
Wald: 2517 ha
Höchster Punkt: 2063 Meter über Meer
Steuerfuss: 1.66
www.sigriswil.ch