Statt in den Boxring geht sie schon bald auf Reisen

  10.05.2024 Sport-Reportagen

Wer sich mit Christina Nigg, der ehemaligen Weltmeisterin und heutigen Chefin Leistungssport und stellvertretenden Nationaltrainerin Boxen, unterhält, fühlt sich zwischendurch um Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückversetzt. Im frisch gewählten Nationalrat sassen 1995 weniger als ein Viertel Frauen (49, heute 77) und der Schweizerische Boxverband riet Christina Nigg, eine andere Sportart zu wählen, «denn Frauen gehören nicht in den Boxring.»

Doch so schnell geschlagen gab sich Christina Nigg, die bereits als Handballerin bei Rot-Weiss Thun und Kunstturnerin im TV Strättligen aktiv war, nicht. Als Physiotherapeutin betreute sie viele Boxer, stand in der Ringecke und fühlte auch in der Garderobe den Puls der Aktiven vor ihrem Einsatz und die Gefühlsausbrüche nach einem gewonnenen oder verlorenen Kampf. «Das reizte mich, denn was ich aus nächster Nähe sehr intensiv erlebt und verfolgt hatte, wollte ich auch erleben. Mittendrin, statt nur daneben, lautete meine Idee. Doch André Schenk, der legendäre Boxtrainer, meinte, ich solle die Männer nicht beim Training stören. Gib mir ein grosses Shirt und behandle mich wie einen 14-jährigen Junioren, sagte ich zu ihm, und so durfte ich endlich mittrainieren. Die Szene kannte ich à fond, ich lernte als Physiotherapeutin, Trainerin und Betreuerin, die Leute zu lesen, sie zu spüren, machte Sparring mit ihnen, doch eine Lizenz wurde mir vorerst verweigert», blickt Christina Nigg 30 Jahre zurück. «Ulrike Heitmüller, eine Theologiestudentin aus Stuttgart, die sich auch fürs Boxen interessierte, organisierte schliesslich eine Frauen-Box-Demonstration in einer grossen Halle mit deutschen Boxerinnen, die auch vergeblich um eine Amateur-Lizenz kämpften, lud zahlreiche Journalisten ein, die nach dem Anlass die Frage stellten, worin der Unterschied zwischen einem Boxkampf unter Männern und unter Frauen liege. Die Reaktionen in Deutschland waren beeindruckend.»

Nicht das Ende nach einem Kampf
1996 endlich bekam Christina Nigg vom Schweizerischen Boxverband eine Amateur-Lizenz erteilt, trug einen ersten offiziellen Kampf gegen eine Französin aus, den sie mit 1:2-Richterstimmen nach Punkten verlor – Trainer Res Schenk dachte, er habe jetzt Ruhe und der erste auch der letzte Boxkampf Christina Niggs gewesen sei. «Doch ich sagte mir: jetzt erst recht, boxte weiter und schliesslich war ich Champion», so die Box-Expertin, die Ende Jahr von all ihren Ämtern zurücktreten und auch ihr Boxgym in Thun nicht mehr weiter betreuen will. Als Chefin Leistungssport und stellvertretende Nationaltrainerin sucht sie eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger, für den Stützpunkt Berner Oberland in ihrem Boxgym in Thun einen Interessenten, doch fündig geworden ist sie bisher noch nicht. Dass aber Ende Jahr ein Schlussstrich gezogen wird, ist für sie klar. Seit ein paar Jahren ist sie mit dem ehemaligen mehrfachen Schweizermeister Markus Schweizer liiert, mit ihm will sie die Welt bereisen, Tauchen, Campen, Trampen, die ferne Welt, Costa Rica, Indonesien und viele andere Destinationen, das alles will sie noch erleben. «Probleme gibt es in unserer Beziehung nicht. Wir haben zusammen die Schule besucht und uns früher im Sparring auf die Nase gehauen, jetzt geht es friedlich zu und her», sagt sie mit einem Lächeln auf den Lippen.

Vorerst noch hohe Ziele
Doch so weit ist es noch nicht. Bis Ende Jahr will sie ihre Ämter noch ausführen und das – wie sie alles in ihrem Leben immer getan hat – mit hundertprozentigem Einsatz. Im Blickfeld hat die Chefin Leistungssport die kommenden Olympischen Spiele in Paris. Sie versucht, ihre hoffnungsvollsten Boxerinnen und Boxer für Olympia zu qualifizieren, doch dies ist ein steiniger und harter Weg. «Bisher gelang es uns nicht, die Qualifikation zu schaffen.» Demnächst führt sie die Reise nach Bangkok an die World Qualification 2, wo die Aktiven einen weiteren Anlauf in Richtung Olympia wagen. Christina Nigg klärt auf. «Im Boxen ist es wirklich schwierig, dabei zu sein. Man stelle sich vor, dass an den Welt-Qualifikationsturnieren 600 Boxerinnen und Boxer teilnehmen und pro Gewichtsklasse nur zwei bis vier Quotenplätze zur Verfügung stehen. Insgesamt stehen in Paris je 128 Frauen und Männer im Einsatz, die in allen Gewichtsklassen zusammengezählt teilnehmen können. Sieben Kämpfe in Serie zu gewinnen ist eine schwierige Angelegenheit – Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic kennen das im Tennis, doch bei uns gibt es auch keine Gesetzten, so dass der Fall eintreten kann, dass unsere Leute bereits in Runde 1 auf die Weltnummer 1 treffen.»

Die letzten Schweizer, die sich zusammen mit Christina Nigg aufmachen, um in Bangkok zu Olympioniken zu werden, sind Ana Milisic (bis 57 kg), Anna Jenni (60 kg), Adam Messibah (71 kg) und Ukë Smajli (92 kg). «Sie alle nehmen Einiges auf sich, um ihren Olympiatraum zu verwirklichen. Eine Schweizer Boxerin oder ein Schweizer Boxer bei Olympia – der oder die Erste seit 1972 – das wäre auch für Christina Nigg ein schöner Abschluss ihrer langen und erfolgreichen Karriere als Aktive, Trainerin und Betreuerin im Boxsport. Der Pionierin wäre dies zu gönnen, bevor sie mit Markus Schweizer in die Ferne schweift, ohne Handschuhe, ganz ruhig, denn dann wäre die grossartige Laufbahn endgültig Vergangenheit. Handschuhe wird sie auf den Trip rund um die Welt mit ihrem Partner nicht dabeihaben. Die Zeiten, als sie sich im Sparring bekämpften, sind vorbei. Aus harten Schlägen ist doch noch Liebe geworden.
Pierre Benoit


Christina Nigg

wurde am 24. Februar 1961 in Zürich geboren und lebt seit 60 Jahren in Thun. Sie bestritt insgesamt 22 Kämpfe, davon sechs als Profi. Die Thunerin gilt als Pionierin des Frauenboxens in der Schweiz. Sie ist seit Januar 2020 Chef Leistungssport bei Swiss Boxing und stellvertretende Nationaltrainerin, dazu Chef de Mission bei Swiss Olympic und aktiv in der Trainerausbildung im BASPO in Magglingen. Im Oktober 1999 wurde die mehrfache Schweizermeisterin mit einem Sieg über die Französin Nadia Debras bei den Profis Intercontinental Champion im Federgewicht. Nigg leitet das Box Gym BTO in Thun. Sohn Mischa bestritt als Profi zehn Kämpfe (9 Siege, 8 durch KO)

 


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote