Vom Thunersee zur Nordsee – auf zwei Rädern

  30.05.2024 Reportagen

Die letzte erweiterte Trainingsfahrt um den Thunersee liegt mit 60 Kilometern weit entfernt vom täglichen Etappenziel der bevorstehenden

Radreise. Mir wird klar, dass sich die Definition des Zieles «Nordsee» mit Sicherheit an der oberen Grenze meiner Möglichkeiten befindet. Jedoch scheint mir die Vorstellung der Erreichung zu reizvoll, als dass ich nach einer ersten Euphorie bereit bin, eine Reduktionsplanung zu machen. Die Kurzfristigkeit, mit welcher die Reiseplanung zustande kam, liess ohnehin keinen Raum für Anpassungen. Meine Arglosigkeit zeigt sich auch in der Idee, nur Tage vor dem Start die schwächelnde Bremse meines geliehenen Fahrrads erneuern zu lassen. Glücklicherweise glaubt Roland von Sport Amstutz AG, Thun, an mein Abenteuer und so schliesse ich am Freitagvormittag meine Wohnungstüre hinter mir zu, breche mit Bianca, so nenne ich das weisse mit 16 kg bepackte Fahrrad, auf und rolle mit einem breiten Grinsen am Schwäbisbad vorbei Richtung Bern. Dem Fluss der Aare entlang bis zur Nordsee, 1500 Kilometer in 16 Tagen. Einmal mehr bin ich froh, nicht zu wissen, worauf ich mich einlasse, und als ausgesprochener Regenmuffel ist das wohl auch besser so.

Die Überraschung darüber, dass sich – obwohl ich einem Fliessgewässer folge – in der ersten Etappe nach Biel irgendwo 600 Höhenmeter verstecken, verunsichert mich nicht; auch wenn mich diese Steigungen mit dem Gepäck über kurze Strecken vom Rad zwingen und schieben lassen. Stattdessen lasse ich mich vereinnahmen von der Intensität der Wahrnehmungen, wie man sie eben nur beim Velofahren erlebt. Der Geruch von frisch geschnittenem Gras, das Quaken der Frösche im Schutzgebiet bei Münsingen oder das Donnern der eben gestarteten Maschine am Ende der Flugplatzpiste in Belp. Ich verzichte bewusst darauf, im Vorfeld Unterkünfte zu buchen, um mir die Gestaltung der Etappenlänge freizuhalten. Der Schwerpunkt der ersten Tage bis zur Schweizer Grenze liegt darin, in eine Routine zu kommen. Unerwarteterweise verbergen sich die Herausforderungen weniger im Sattel, als darin, die vier Gepäckträgertaschen ausbalanciert zu befüllen, die Campingwäscheleine im Hotelzimmer zu montieren und die täglich handgewaschenen Textilien bis zum Folgemorgen wieder trocken zu bekommen. Die Beschilderung der Radwege in der Schweiz ist schlicht grossartig und ich behaupte, es ist möglich, einer ausgeschilderten Route ohne weitere Hilfsmittel zu folgen. Das gestaltet sich auf der andere Seite der Schweizer Grenze definitiv anders, aber das ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. So radle ich als etwas bernscheue Thunerin problemlos ohne Navigationshilfe durch die Stadt, mache vor der Zeitglocke und auf dem Bundesplatz Halt für ein Foto und bin verzückt über die, unmittelbar auf das Stadttreiben folgende, verträumte Ruhe der Wohlensee-Region.

Wiederholt begegne ich ganzen Gruppen von laut knatternden Mofas. Es handelt sich dabei aber nicht um Töffli-Buebe, sondern um gestandene Töffli-Männer, die statt mit Flaum an der Oberlippe, mit langen Bärten, Wochenendgepäck und obendrauf geschnallten Schlafsäcken im Konvoi durch Schweizer Radwege brettern und mit ihrem jugendlichen Gehabe nicht nur bei mir für verschmitztes Lächeln sorgen. Spätestens als ich im Solothurnischen an einer Mutterkuh-Herde vorbeikomme und die Zwillingsgeburt der Kälber beobachte, tauche ich ein ins Gefühl von naturnahen und freien Ferien. Lasse mich hinreissen zu allen möglichen Gelegenheiten vom Rad zu steigen, um die zahlreichen Eindrücke nicht nur bildlich einzufangen, sondern sie auch ganz bewusst zu geniessen. Eine verlockende Freiheit, die sich nur bedingt mit der Erreichung eines gesetzten Streckenziels vereinbaren lässt. Spätestens als mein Blick auf eine schwarze Regenfront hinter mir fällt, steigt in mir eine überzeugende Motivation auf, mich zügig vorwärtszubewegen. Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass man in 16 Tagen Velotour vom Regen verschont bleibt, dennoch habe ich, diese Tatsache bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich verdrängt. Er hält mich über 50 Kilometer in Schach und erwischt mich letztlich auf meinen letzten 15 Kilometern vor dem Etappenziel Schönenwerd. Aber die besonderen Lichtverhältnisse, der Regenbogen über dem Kernkraftwerk Gösgen und die Aussicht auf eine baldige warme Dusche in der Unterkunft, lassen mich das kühle Nass wegstecken. Dennoch erinnert mich dieser kurze Gruss und die nasse Kleidung auf der Haut an die unweigerliche Tatsache, auf meiner Reise dem Wetter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Pausentage finden im kilometerdiktierten Ferienplan keinen Platz.

Ich nähere mich Koblenz, dem Treffpunkt von Rhein und Aare, begleitet vom unverkennbaren Ruf des Milan und ganzen Scharen von Störchen. Unmittelbar am Wegrand sind Blindschleichen im Liebesrausch, verführend singende Amseln und sich paarende Libellen zu beobachten. Beim Klingnauer Stausee rasten zahlreiche Zugvogelarten und alleine dieser Platz wäre eine Tagesreise wert. Nach einem kurzen Abstecher nach Bad Säckingen nehme ich Kurs auf die letzte Schweizer Station, Basel. Mit einer gewissen Anspannung in der Bauchgegend lasse ich den enttäuschten Kellner den Rest der Pasta abräumen und begebe mich ausnahmsweise ohne Dessert zurück ins Hotel. Fertig mit Heimvorteil und Welpenschutz, da machen auch die Wetterprognosen keine Ausnahme. Morgen steht die 5. Etappe meiner Reise an und gerade jetzt scheint mir die Nordsee weiter entfernt, als die Tage zuvor.

Astrid Schmid


Zur Autorin

Astrid Schmid, 51, gebürtige Bündnerin, lebt seit sieben Jahren in ihrer Wahlheimat Thun. Sie ist gelernte Notfall-Pflegeexpertin, Kauffrau und arbeitet beim IT Provider der Schweizer Armee. Durch verschiedene Engagements beim Bund und in der Privatwirtschaft, in der Justizvollzugsanstalt und als Stabs-Offizier in militärischen Friedensförderungseinsätzen im Kosovo, sucht sie die Intensität des Lebens und die Begegnung mit Menschen. 2019 und 2023 überquerte sie in 4er-Teams den Atlantik, bzw. den Pazifik im Ruderboot. Auf dem Thunersee schöpft sie Kraft und neue Ideen.


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