Zwischen Märchenort und Zwieselberg

  28.12.2023 Reportagen

Für einige verströmt bereits der Ortsname unmittelbar einen Zauber, für andere ist die Gemeinde Durchgangsort auf ihrer Velotour und war auch schon Tatort in einem historischen Krimi. Für die Zwieselberger:innen ist es der schönste Ort zum Leben, und das bleibt auch nach der Fusion mit Reutigen im neuen Jahr so.

Umso weniger Ablenkung im Aussen herrscht, desto mehr kann sich der Blick auf das Wahre und also auf das Wesentliche richten. Könnte dieser allgemein gültige Grundsatz auch auf die Bewohner:innen dieser kleinen Gemeinde, südwestlich der Stadt Thun, zutreffen? Denn hier gibt es ausser Hügel, Berg, Wald, Bach, Viehweide und ein paar Häusern und Höfen weder einen eigentlichen Dorfkern, noch eine Bäckerei, Käserei oder sonstige Einkaufsmöglichkeiten. Die Gemeinde Zwieselberg liegt auf dem gleichnamigen Hügelzug westlich des Thunersees. Im Süden grenzt sie an Reutigen, im Osten an Spiez, im Nordosten an Thun, im Nordwesten an Amsoldingen und im Westen an Höfen bei Thun. Zwieselberg besteht aus zwei Weilern: beim Schulhaus und Glütsch.

Im Hügelland zwischen den Bergen der Stockhornkette und dem unteren Seebecken bildet aktuell noch der Glütschbach die Grenze zu Reutigen und ist idyllisches Wahrzeichen für die stark bäuerlich geprägte Gegend. «Heute zählen wir sieben aktive Betriebe – vor zirka 30 Jahren waren es gut und gerne doppelt so viele», erzählt der Zwieselberger Landwirt und Gemeindepräsident Hanspeter Iseli. Aus historischen Dokumenten und den da aufgezeichneten Tränkerechten weiss er: «vor hundert Jahren kamen von weitherum alle an den Glütschbach, um ihre Tiere zu tränken.» Schon sein kinderloser Grossonkel hat hier «buret». Er übergab den Betrieb Iseli’s Vater, einem gebürtigen Ringoldinger. So zog die Erlenbacher Familie im Jahr 1966 ins Glütsch nach Zwieselberg.

Hanspeter Iseli und sein Zwillingsbruder Jürg führen heute den vom Vater übernommenen Milch- und Alpwirtschaftsbetrieb gemeinsam mit je einem ihrer Söhne: «Wir sind eine Generationengemeinschaft und bewirtschaften einen Dreistufenbetrieb – vom Glütschbachtal geht es im Sommer nach Erlenbach ins Maiensäss und zur Alpzeit sind wir dort auf der Rinderalp.» Iseli ist durch und durch ein Zwieselberger und erklärt in seinem unnachahmlichen Dialekt: «Es ist ein Privileg, da zu wohnen, wo viele ihre Ferien verbringen.» Wenn er von der Gegend mit ihren schönen Plätzen erzählt, kommt er noch mehr ins Schwärmen. Es gibt daher für ihn nicht den einen Lieblingsplatz, sondern dessen viele und er lobt das schöne Panorama etwa von Eiger, Mönch, Jungfrau oder Niesen und Stockhornkette.

Wer den Familiennamen Thönen oder Schneiter trägt, ist von da her mit Zwieselberg stark verwurzelt. Doch zeichnet die echten Zwieselberger:innen noch etwas anderes aus: «Wir sind sehr gesellig und schauen zueinander – obendrein ist man einfach stolz, Zwieselberger:in zu sein», so der Gemeindepräsident. Den Hiesigen ist das Dorfleben wichtiges Anliegen – trotz stagnierenden Einwohnerzahlen, immer weniger Vereinen, praktisch keinem Bauland mehr und infrastrukturell seit Jahren mit Reutigen geteilten Vereinen und Gremien. «Ein Drittel, also um die hundert Menschen hier, waren gegen die Fusion», berichtet Hanspeter Iseli, was ihm zeigt: «ein gewisser Stock hält an der politischen Selbständigkeit fest.» Die Mehrheit jedoch stimmte der Vernunftehe mit Reutigen zu.

Gemeindepräsident von Reutigen – ein Zwieselberger
So ist es möglicherweise sehr ideal, dass der um 330 Seelen gewachsenen Gemeinde Reutigen ab 1. Januar 2024 ein Zwieselberger vorsteht: Hanspeter Iseli übernimmt freudvoll die ihm übergebene Herausforderung. Er ist bereits seit 2021 Dorfvorsteher von Zwieselberg und elf Jahre im Gemeinderat. Mit Reutigen verbindet ihn viel: Dank Viehzucht und Turnverein ist er hier gut vernetzt. «Auch einige Reutiger:innen haben mir bei der Wahl die Stimme gegeben», lacht er. Den zum Fusionsentscheid überstimmten Leuten von Zwieselberg teilt er wohlwissend mit: «Viele Gebilde, die es in meiner Zeit in der Gemeindepolitik einmal gab, sind heute nicht mehr da oder anders als zu Beginn – es entwickelt sich alles weiter und ist stets im Wandel.» Für ihn bedeutet die Fusion: «gegenseitiges Zusammenführen, und so wird es normal.» Zudem bleiben etwa in Zwieselberg unverändert: Postleitzahl und Ortstafeln.

Zu den nächsten Schritten im Fusionsprozess befragt, führt Iseli aus: «Sicher gibt es auf politischer Ebene erst einmal die Zusammenführung umzusetzen.» Dabei sieht er die Herausforderung insbesondere darin, die verschiedenen Mentalitäten in den unterschiedlichen Gremien auf einen Nenner zu bringen und meint: «Es werden beide Dörfer Kompromisse eingehen müssen.» Als Ziel nennt er, in vier Jahren sagen zu können: «es läuft alles wie bis anhin.» Auf Verwaltungsebene Kosten zu sparen und noch vermehrt Synergien zu nutzen, erachtet er mittelfristig als gegeben. Und wie wird das neue Gemeindewappen? Denn: Es wird neu – sowohl für Reutigen als auch für Zwieselberg. Es wird in einer Gruppe ausgearbeitet, so Iseli. Auf Schulebene ist man mit Reutigen bereits zusammengeschlossen und aktuell gibt es noch eine zweite und eine dritte Klasse in Zwieselberg. Zwei Millionen werden in den nächsten zwei Jahren eingestellt für eine Schulraumerweiterung. Wo diese erfolgt, ist derzeit noch offen.

Übrigens, Zwiesel ist mit dem Zahlwort zwei verwandt und bezeichnet eine Gabelung oder Doppelung. In der Forstwirtschaft werden Bäume, die sich im Stamm teilen, Zwiesel genannt. Bei Fliessgewässern kommt der Name relativ häufig vor und auch einige Berge mit Doppelgipfel heissen Zwiesel. Und Zwieselberg bleibt Zwieselberg und die Wasser des Glütschbachs entspringen nach wie vor der Stockhornkette und gurgeln vereint mit Feusibach und Fluhbach als Glütschbach durch das Reutigenmoos. Möge der Zusammenschluss auch unter den Menschen reibungslos und flüssig verlaufen. Auf dass sie den Blick für das Wahre, Schöne und Gute nicht verlieren. Barbara Marty


Zahlen und Fakten

Gemeinde: 3645 Zwieselberg
Einwohner:innen: 330
Fläche: 246 ha
Wald: 62 ha
Höchster Punkt: 825 m ü. M. Pinsernwald
Steuerfuss: 1.75 www.zwieselberg.ch


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